Hertha Nathorff verliert Pass und Approbation, 1938

In Auszügen aus dem Tagebuch Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945 schildert Hertha Nathorff anschaulich die für sie unbegreifliche Zerstörung ihres Lebens und die Vertreibung aus ihrer Heimat.

Hertha Nathorff war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin.Sie arbeitete bis 1934 als leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation. Mit Hilfe amerikanischer Verwandter gelang ihr die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York. In ihrem Tagebuch befasst sich die Autorin mit ihren Erfahrungen in NS-Berlin und später in der Neuen Welt.

In diesem Ausschnitt aus dem Tagebuch beschreibt Hertha den Verlust Ihres Reisepasses und ihrer Approbation im Jahre 1938.

1933, Boykottaktion der Nazis gegen jüdische Geschäfte, Berlin © Bundesarchiv

6. Februar 1938

Nun mußten auch wir den Paß abliefern. „Juden dürfen keinen Paß mehr haben.“ Man hat wohl Angst, wir könnten über die Grenze gehen! Aber das will man doch! Merkwürdige Logik. Jedenfalls weiß ich, nun sind wir erst recht gefangen, nun kann man erst recht mit uns machen, was man will und gerade zum Frühjahr wollten so viele Eltern ihre Kinder besuchen in Palästina. […]

5. August 1938

Wir saßen bei Tisch mit unseren Gästen, da kam ein Telefonanruf. Ich gehe selbst an den Apparat. Kollege S., er frägt mich: „Haben Sie eben Radio gehört?“ „Nein“, sage ich, „was ist denn wieder los?“ Der sonst so ruhige Kollege, er sagt mit zitternder, erregter Stimme: „Was Sie immer prophezeit haben, sie nehmen uns die Approbation, wir dürfen nicht mehr praktizieren – eben hat man’s am Radio durchgesagt“. […]

18. September 1938

Einige Ärzte dürfen als „Judenbehandler“ weiter praktizieren, auch mein Mann soll dieser „Ehre“ teilhaftig werden! Ein Schild, „Nur zur Behandlung von Juden berechtigt“, ein blaues Schild mit Davidstern und gelbem Fleck – nein, ich danke dafür.

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14-jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York. In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe für den Lebensunterhalt der Familie. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: Sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club. In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff  Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 105, S. 112, S. 114.