Im Morgengrauen

Mascha Kaléko schreibt über ihre Einsamkeit in der Exilstadt New York.

 

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mein Herz schrie auf. Ich bin erwacht

Und starre dunkel in die Nacht.

Die Stadt schlief ein auf grauem Stein.

Ich bin allein. Bin ganz allein.

Mich hat ein Traum erschreckt.

Das hinterlistige Tier,

Der tags verscheuchte Kummer,

streckt

Die Fänge aus nach mir.

Erstorben schweigt das laute Haus.

Nun ging die letzte Lampe aus.

Wer jetzt nicht ruht, den weckte Schmerz.

Ich bin erwacht. Es schrie mein Herz.

Wie ich vor dem Fenster, so stehn

Allerorten wohl nächtliche Brüder,

Die Sterne verblassen zu sehn

Und dem Uhrenschlag wieder und wieder

Zu lauschen, und dem klang der verschollenen Lieder

In des Morgenwinds tröstlichem Wehn…

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

 

 

 

Mascha Kaléko, Im Morgengrauen, erschienen im Aufbau, Freitag, 2 Februar 1945, S.20. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022)