Interview mit mir selbst

Ein Gedicht von Mascha Kaléko

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Interview mit mir selbst

I.

Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen, klatschbeflissnen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine grosse Irrenanstalt hat.

Mein meistgesprochnes Wort als Kind war „Nein“.
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.

Im Ersten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
Ich war schon sechs, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.

Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich zwecks Bildung bald entfernten.
Doch was wir auf der Hohen Schule lernten,
Ein Volk „Die Arier“ ham wir nicht gehabt.

Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau.
Es hiess, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.

Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schrieb ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.

Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.

II.

Post Scriptum. Anno fünfundvierzig

Inzwischen bin ich viel zu viel gereist,
Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik.
Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist,
Und was ich suchte, keineswegs Romantik.

Das war einmal. In einem andern Leben,
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was begeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind.

Das lernt das Wörtchen „alien“ buchstabieren
Und spricht zur Mutter: „Don’t speak German, dear.“
Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen,
Daß er „allright“ ist, wenn auch nicht von hier.

Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May!
Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte …
Er denkt, was ich in seinem Alter dachte:
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mascha Kaléko (7. Juni 1907 – 21. Januar 1975) war eine Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko ist sieben Jahre alt, als sie in Deutschland ankommt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Mascha Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sich Kaléko nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar. Das Gedicht „Interview mit mir selbst“ schreibt Kaléko in zwei Teilen: Im ersten Teil behandelt sie ihre Kindheit als „Flüchtlingskind“ in Deutschland. Den zweiten Teil, den sie im Jahr 1945 ergänzt, widmet sie ihrem kleinen Sohn, selbst ein „Emigrantenkind“. Sie schreibt: „Ich war schon sechs, als ich noch immer dachte, / Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.“ Diese Zeilen wiederholt sie im zweiten Teil aus Sicht ihres Sohnes. Daraus spricht Kalékos Hoffnungslosigkeit angesichts der Lage der Welt.

 

 

 

Kaléko, Mascha: Interview mit mir selbst, in: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz © 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S. 175f.