Kleiner Abstecher nach „Delancey“

In diesem Artikel stellt Mascha Kaléko das Phänomen und Lokalkolorit von Delancey Street (New York), die kulturelle Vielfalt ihrer internationalen Bewohner:innen und ihren Alltag dar. Lower Eastside wurde zur traditionellen ersten Station der jüdischen Immigrant:innen aus Russland, Polen und Rumänien. Hier haben auch die deutschen, italienischen, griechischen Immigrant:innen sowie Sinti und Roma ein besseres Leben gesucht. Hoffnungen und Enttäuschungen, Träume und Realität – das alles ist in diesem Zeitungsartikel zu finden.

Ausschnitt 1 des Artikels aus der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau © JM Jüdische Medien AG / Serenade Verlag AG

Die „Eastside“, wo sie am eastside-sten ist, ist „Delancey“. Das schliesst nicht nur Delancey Street ein, sondern all die Strassen rundum: Orchard und Rivington Street, Clinton, Pike, Eldridge und den Rest. Delancey Street selbst hat mittlerweile Karriere gemacht. Die Kleiderpuppen in ihren Konfektionsläden tragen bereits das gleiche standardisierte Lächeln im Pappgeist wie “uptown“. Und kein berufsmässiger „Schlepper“ versucht, dich ins Ladeninnere zu ziehen, wie eins, in noch nicht allzu grauer Vollzeit. Es ist alles „businesslike“ in Delancey Street, und beinahe tadellos.

Das macht die Armseligkeit der übriggebliebenen Kramlädchen nur noch armseliger. Ach, diese schäbigen kleinen Ramschbuden in Orchard Street. Diese wackligen Holzstände mit ihren Armeleuteschätzen. Tisch an Tisch, bis tief in den sidewalk hinein. Ewiger Jahrmarktzauber der Minderbemittelten: „angestaubte“ Seidenhöschen und biedere Flanellhemden mit „kleinen Webefehlern“.  Zwischen Fabrik und Abfalleimer erhebt sich allerorten noch eine Zwischenstation, hier ist es Lower Eastside, die aus dieser“ Not“ der Reichen eine Tugend für die Armen macht.

Der Gott der kleinen Webefehler

…Denn hier beten die kleinen Schuljungen mit den ewig zerfetzten Hosenböden zum Gott der „kleinen Webefehler“. Der fügt es, dass „Mom“ zu den Feiertagen einen neuen „Overall“ kaufen kann für den kleinen Jack-und die anmutigen kleinen Shirleys tragen ihre Dollar-Kleidchen vom bargain-counter in Orchard Street. In Orchard Street ist alle Tage „letztmaliger Ausverkauf“ und immerdar special. Prüfenden Auges schiebt Mutter den Kinderwagen durch das Gewimmel von Leuten und Pappkartons. Und hier wird einem Dreikäsehoch das erste Paar Hosen anprobiert, mitten im Gedränge. „Grab it!! Schreit ein hausgemachtes Plakat über einem Korb voller Herrenschlipse, die so gut wie garnichts kosten.

Ausschnitt 2 des Artikels aus der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau © JM Jüdische Medien AG / Serenade Verlag AG

„Juden ohne Geld“

Drinnen: Das internationale „Parfüm“ von Armut und Elend, Enge und Trostlosigkeit. Heisst so ein slum-Gebäude auch arroganterweise noch immer „The Orchard“- das tut nichts: Nackt und verkommen ragt das Wasserrohr aus der Mauer. Rissige Wände und wacklige Treppen. Wie ein räudiger Hund steht so ein Haus da und jammert: Reisst mich nieder, gute Leute.-Aber noch immer wohnen hier die „Juden ohne Geld“. Im Eingang noch immer das verblichene Schild mit der Anweisung, „den Müll nicht auf die Strasse zu werfen“. Und es spricht zu jedem der tenants in seiner Sprache: in Jiddisch, in Italienisch- und für etwaige Englischsprechende- in Englisch.  Immer haben die Armen hier gewohnt, die Iren und die Deutschen, die Italiener und vor allem die Juden. In den ersten sweatshops hier haben die bleichen Schneider und Hosenbügler des jiddischen Proletendichters Morris Rosenfeld das letzte Restchen Gesundheit weggeschwitzt. Aber-: hier wurde auch die erste Gewerkschaft geboren. Die „Jewish Union oft the United Hebrew Trades“, von ein paar wackeren Schneidern ins Leben gerufen. Eine seltsame Zunft sollen sie gewesen sein, diese ersten New Yorker „garment workers“. Aus Russland, Polen und Rumänien kamen sie. Mit unterernährtem Reisegepäck. Aber ein Band Gorki, Tolstoi, oder auch Marx und Heine, fiel beim Auspacken heraus. Zum Schrecken der „alteingesessenen“ Verwandten.

Hier haben die Besitzlosen angefangen. Immer wieder träumten sie den gleichen Traum: einmal in saubere Strassen, luftige Räume zu ziehen, nach Brooklyn vielleicht- oder gar in die Bronx. Jahrzehntelang ging das so. Die Lower Eastside wurde zur traditionellen Ersten Station des jüdischen Immigranten.- Und die Neuentdeckung der jüngsten Refugee-Gruppe: dass man seinen New Yorker Lebenslauf unbeschadet auch am oberen Broadway beginnen kann, erscheint alten Eastsidern ein bisschen hochmütig. Noch immer frieren die Kinder hier, wenn im Winter die Rechnung im Kohlenkeller nebenan nicht bezahlt ist. Und im Juli beginnt der grausige „Sommernachtstraum“ des tenement districts, wo man nicht schlafen kann, ausgeliefert der alles verzehrenden Hitze und den nicht minder gefrässigen  bed bugs. Noch immer wird den kleinen Abes und Goldies das schmierige „Kike“ nachgerufen oder „Sheenie“- und noch immer antworten sie promt mit „wop“ oder dem entsprechend Kosenamen für den lästigen Ausländer.

Aus Moishe wird „Milton“

Wie dazumal, schuftet „Pop“ und knausert „Mom“, damit aus den Kindern was „Orntliches“ werde, so Gott will. Über den Einfluss jüdischen Humors auf den New Yorker „wisecrack“ liesse sich ein kleiner Wälzer schreiben. Bis in die Broadway- Spalten Tageszeitung ist der „wisecrack“ (eine Art Blitz-Bonmot in Volksausgabe) gedrungen, und von der „slanguage“ zur „language“ ist nur ein kleines „s“. Im Zeitalter der Lichtreklame ist so mancher kleine Isidor zum „Irving“ avanciert. Und unzählige zum „Milton“, die einstmals „Moische“ hiessen. Eastsidejungen von 1945 stecken in Uniform und bewähren sich als „Stars“ im Theatre of War. Sie spielen ihre „Charakter- und Heldenrollen“ ehrlich und gekonnt. Ihren Müttern nachause schreiben sie V-Mail-Briefe mitten aus dem Schlachtengetümmel. Aber auch solche, wie diesen, den ich im Original angeschlagen fand im „Kosher Delicatessen“ auf Delancey Street.

„Dear Mom: I am well, but could be weller if you sent me some Salami. The real stuff. o.k.?-o.k … Now, dat’s a nice goil. Thanks a million. Love. Dave“.

Paradies der „Kosheren Delikatessen“

Denn hier, brother, bist du mitten in Paradies der koscheren Delikatessen.-Jiddisches Schlaraffenland, wo sogar der Wein „kosher“ ist und das Gänseschmalz „100% pure“, wie ein Anschlag eigensinnig behauptet. Rivington scheint überhaupt die Strasse der „Spezialitäten. Hier halberblindeter Fensterscheibe baumelt einsam eine Schnur getrockneter Pilze. Nebenan, riesige Bibel-Buchstaben: „Siddurium. Machsorim“. Gebetbücher in sämtlichen Preislagen, und „Alles für Sabbath-Tisch“.

Die „Fromme Ecke“, etwas Balkan und „Rooms“ für fifty cents…

„Strictly kosher“ dagegen ist alles unten in Rivington Street. Fresh-killed Chickens today schreit ein Schild brutal, und ein anderes, in jiddischer Sprache, flüstert bescheiden: Do wet ibergesehn Tefillin. Das ist etwas für die ganz Frommen. Dies hier ist wahrscheinlich eine fromme Ecke, voll von heiliger Schrift und Betstuben. Da offeriert die First Roumanian Congregation eine erstklassige „religious education“ fürs jüdische Kind. Schrumpelweiblein, Wolltuch überm Scheitel, hocken auf Stufen, Katzen umschnuppern die Abfallkästen, und an allem vorüber schreitet der Eastside-Photograph mit Kamera und Schaukelpferd. So arm sind die Leute hier. Wollen sie das Baby aufnehmen lassen, so müssen sie den „Hintergrund“ dazu borgen. Denn ohne Schaukelpferd-das sähe doch so aus, als hätte man keines…

Hübsch rumänisch und unverfälscht ist eine Ecke der Allen Street mit ihren Weinkeller-Restaurants, der Maiskolben-und Paprika-Dekoration, den schmachtenden Geigen und dem süssberauschenden Muscatel. – Was aber ist „Kaffal“ und was „Lakerda“? Die gab’s bei Caldes, Exotische Fischkonserven. Der ganze Balkan ist da mit Kisten voll von „Harem Delight“, „Damaskus Maid“ und anderem Bosporus-Konfekt. Doch heisst auf Jiddisch an der Eingangstür: „Schabbes geschlossen“. Traurig ist Forsythe Street; das mahnt schon sehr an Bowery-Verlassenheit und Alkoholiker-Ende. Hier macht das Ghetto eine Pause, wird griechisch, serbisch und „Brother, can you spare a dime“-Bezirk. Hier gibt es auch die „Rooms for fifty cents“. Das schmierige Fenster geht hoch: ein unwirscher Grieche steckt den Kopf heraus. Es riecht nach Karbol. Hier findet jeder Unterschlupf, für einen Vierteldollar, oder einen halben-für die Luxuriösen.-Wie aber heisst so ein Loch, so eine wanzengespickte Elendsbude?-„Parkview Hotel“.-Darunter tun sie’s nicht.

In „Brass Row“, der Altmetall Gegend, leuchten die Messing-Samovars, Gerümpel und Schätze. Die „Antique Shops“ voll von „Junk“, die „Junk Shops“ voll von „Antiques“. Goldecht dagegen sind die Zigeuner vor den Schänken. Wie sie im Buche stehn: rot das Sammetmieder, knallblauer Satin der weite Rock, die Haut blattbraun, wie Laub im Herbst. Und wenn sie gehen, klimpern die Münzenketten. Aber sie gehen ja nicht, sie schreiten. Stolz und hoch, als wäre noch der Böhmerwald um sie. Die Jungen, mit Prinzessinnen-Allüren, den Pelzmantel über nackten Beinen in knallgrüner Sandale. Und Augen haben sie alle wie Wildkatzen, das schnurrt und hüpft und ist so unbändig vergnügt.-Wie fallen einem danach die traurigen Judengesichter aufs Herz, wieder in Orchard Street. Die Armut ist kein Beauty Parlor, und auch der vielgerühmte „Glanz von ihnen“ bedarf die äusseren Politur. Hier fehlt die Heiterkeit des Italienerviertels, wo man im Kummer noch unbekümmert ist.- Zuweilen nur begegnest du einem Typ aus dem „Hiob“ Joseph Roths. Drüben, an der Bus-Haltestelle, der Alte mit dem Prophetenbart, der hat noch etwas von jener Welt. Seine Welt trägt er in sich, wo sie die Alten getragen. Er wartet still und voller Zuversicht. Nichts kann ihm geschehen, wohin der Wind ihn auch treiben mag.

Der Herr ist sein Hirt. Auch in Delancey Street…

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Mascha Kaléko,erschienen im Aufbau, Freitag, 7. September 1945, S. 3. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022)