Mascha Kaléko über drückende materielle Sorgen als Geflüchtete in New York, 1941

Die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) beschreibt in einem Tagebucheintrag vom 20. Juni 1941 in New York die vielen, vor allem materiellen Sorgen als von Wohltätigen abhängige geflüchtete Familie.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Wir sind ohne Geld. Ohne Freunde. Ohne Verbindungen. Ohne Hoffnung. Fahrgeld fehlt. Schuhe fehlen. Medizin für Stephen. 11Mascha Kalékos Sohn Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name im Exil in Steven Vinaver (1936-1968) geändert wurde. fehlt. Schule wird ihn nicht halten, wenn wir nicht zahlen können. Verfluchtes Geld. Demütigend, keines zu haben. Oh, wie die ‚Freunde‘ weichen, wie von Pestkranken. Mittelmäßigkeit ist meist mit Ellbogenkraft verbunden. Chemjo 22Mascha Kalékos Ehemann, der Musiker Chemjo Vinaver (1895–1973). ist ein Genie. Er ist weltfremd. Er kann nur Musik machen. Kein Business. Oh! Liebster Chemjo! Geld haben ist nicht schön. Aber Geld nicht haben ist schrecklich. Ein Bankkonto ist eine gute Vorbeugung gegen Depression.
[…]
Nun sind Ferien. Wie ich die Schule für ihn vermisse. Hitze. Und wir müssen packen, bald haben wir auch keine Wohnung mehr. Noch nie waren wir so „refugees“  wie jetzt.

Selbst die Pfandleiher scheinen sich verschworen zu haben. Wenn wir kommen, ist zu. Mit gezähltem Fahrgeld reisen wir ins jüdische Forum. Wenn wir uns aber verfahren? Organisierte Wohlfahrt macht die Menschen verantwortungslos dem leidenden Einzelwesen gegenüber. Sie haben ihren Beitrag gezahlt. Ihr Gewissen ist rein. Du verrecke. Warum bist du nicht successful? Wobei success – nur Geld heißt.
[…]
Ich entfliehe. Bücher. Nietzsche, Heine, Wolfe, Steinbeck, Whitman.
Ich glaube nicht, daß wir hier je zur Ruhe kommen.

 

 

 

    Fußnoten

  • 1Mascha Kalékos Sohn Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name im Exil in Steven Vinaver (1936-1968) geändert wurde.
  • 2Mascha Kalékos Ehemann, der Musiker Chemjo Vinaver (1895–1973).
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Im Tagebucheintrag vom 20. Juni 1941 schreibt Kaléko über ihre drückenden materiellen Sorgen. Weil sie und ihr Mann Chemjo Vinaver zunächst nur schwer ausreichend bezahlte Arbeit und Aufträge finden, ist die Familie auf die Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen angewiesen, deren Härte ihr unmenschlich scheint. Ablenkung von den Sorgen bietet ihr deutsche und amerikanische Literatur.

 

 

 

Kaléko, Mascha, 1941: Tagebucheintrag vom 20.06.1941.

Veröffentlicht in:

Zoch-Westphal, Gisela, 1987: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Berlin: Arani. S. 120f.