Hertha Nathorff: Ich bin ein Mensch wie jeder

In Auszügen aus dem Tagebuch Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945 schildert Hertha Nathorff anschaulich die für sie unbegreifliche Vertreibung aus ihrer Heimat und die Zerstörung ihres Lebens. Trotz ihrer Sehnsucht nach den Orten ihrer Kindheit und Jugend hat sie Deutschland nie wieder besucht. In Amerika hat sie sich nie wirklich zu Hause gefühlt. Das Heimweh blieb konstant. In diesem Auszug aus dem Tagebuch spricht Hertha Nathorff über Ausgrenzung,  Demütigung und massiven Antisemitismus.

17. Mai 1933

Immer wieder jetzt die gleiche Frage

„Arisch oder nicht?“

Und wer mich wieder fragt,

dem schlag ich ins Gesicht.

Ich bin ein Mensch wie jeder

Nicht weniger und nicht mehr,

Und ich hab nur ein einzig Leben

Und nur eine einzige Ehr‘.

Ich bin ein Mensch gleich allen

Und hab ein Menschengesicht

Doch – „arisch oder nicht-arisch“

Nein, das ertrag ich nicht!

Diese ewige Fragerei macht mich ganz krank. Bin ich denn mehr oder weniger, wenn sie es nun plötzlich wissen? Tue ich nicht immer in gleicher Weise meine Pflicht und mehr als das ? „Frau Doktor, jetzt geht es uns bald gut, wenn die Dreckjuden alle aus Deutschland fort müssen“, sagte mir heute eine Patientin. „So, wen kennen Sie denn, der dann alles gehen muß?“, fragte ich. „Ach, eigentlich niemand.“ Doch“, sagte ich nachdrücklich, „Sie kennen jemand, der auch gehen muß, wenn alle müssen-mich! Und da ist es wohl besser, Sie suchen sich jetzt schon eine andere Ärztin“.

13. Oktober 1933

[…]

Jede Sprechstunde reißt neue Wunden auf, jeder Weg über die Straße ist eine Gefahr, selbst die Kinder in der Schule werden in der Frühstückspause unter dem Schutz eines Lehrers in ein nahes Laubengrundstück geführt, erzählt mir mein Junge, damit es auf der Straße nicht auffällt. Im Autobus fahren sie jetzt getrennt nach Hause, „damit nicht so viele jüdische Kinder zusammen gesehen werden!“.

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie  mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York.  In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe für den Lebensunterhalt der Familie – ein typisches Schicksal von Frauen im Exil. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club.  In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nahorff Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 43 und 51.