Kein Kinderlied

Ein Gedicht von Mascha Kaléko

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Kein Kinderlied

Wohin ich immer reise,
ich fahr nach Nirgendland.
Die Koffer voll von Sehnsucht,
die Hände voll von Tand. 11„Tand“ ist eine altertümliche Bezeichnung für eine hübsche, aber nutzlose Sache ohne wirklichen Wert.
So einsam wie der Wüstenwind.
So heimatlos wie Sand:
Wohin ich immer reise,
ich komm nach Nirgendland.

Die Wälder sind verschwunden,
die Häuser sind verbrannt.
Hab keinen mehr gefunden.
Hat keiner mich erkannt.
Und als der fremde Vogel schrie:
bin ich davongerannt.
Wohin ich immer reise,
ich komm nach Nirgendland.

 

 

 

 

 

    Fußnoten

  • 1„Tand“ ist eine altertümliche Bezeichnung für eine hübsche, aber nutzlose Sache ohne wirklichen Wert.
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mascha Kaléko (7. Juni 1907 – 21. Januar 1975) war eine Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko ist sieben Jahre alt, als sie in Deutschland ankommt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Mascha Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sich Kaléko nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar. Das Gedicht „Kein Kinderlied“ wird erstmals 1964 veröffentlicht, als Mascha Kaléko schon in Jerusalem lebt. In dem Gedicht kommt ein Gefühl der verlorenen Zugehörigkeit und Perspektivlosigkeit zum Ausdruck, indem Kaléko sich als ewig Reisende ohne Ziel beschreibt.

Kaléko, Mascha: Kein Kinderlied, in: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz © 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S. 310.