Minetta Street, New York

In diesem Gedicht beschreibt Mascha Kaléko den besonderen Charakter der Minetta Street in New York, in der sie bis 1959 gewohnt hat. Obwohl sie den Savignyplatz in Berlin als Ort des Heimwehs benennt, lässt sich ihre besondere Liebe zur „my dear Minetta“ in diesem Werk erkennen.

 

Gedicht „Minetta Street, New York“ aus der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau © JM Jüdische Medien AG / Serenade Verlag AG

Ich bin vor jenen „tausend Jahren“,

Viel in der Welt herumgefahren.

Schön war die Fremde;- doch Ersatz,

Mein Heimweh hiess Savignyplatz.

Weissgott, ich habe unterdessen

Recht viel Adressen schon vergessen…

Wenn’s heut mich nach „Zuhause“ zieht,

So heisst der Ort: Minetta Street.

Minetta Street ist eine Gasse

-Aus Höflichkeit nur „Street“ genannt-

Im „Village“, wo die Künstlerklasse

New Yorks ihr Klein-Montmartre fand.

Hier gehen die Mädchen kurzgeschoren,

Die Jünglinge im langen Haar.

Hier nennt sich jede Kammer „Studio“

Und jede Schenke „Künstler-Bar“.

Trotz deines Talmi und Lametta,

-Du Auch-Boheme in Reinkultur-

Gehört mein Herz dir längst, Minetta!

Und nicht des Reimes wegen nur.

Auf hohem Fuss leb‘ ich, verbatim-

Vier Treppen hoch- mit Mann und Kind,

Wo wir zuweilen ausser Atem,

Doch niemals ohne Himmel sind.

Hier, wo der Jünger des Picasso

Mit „Ismus“ malt statt Genius,

Schwang der Indianer einst sein Lasso

Rauschte der Old Minetta-Fluss.

Du hörst ihn unterirdisch hasten,

Wenn er vom Eis erwacht im Lenz,

-Im „Basement“, wo die Literasten

Sich raufen um die „Existenz“.

Sein Murmeln klingt durch meine Träume

Oft wie ein Quell in Odenwald.

-Wacht man dann auf, so sind die Bäume

Laternen nur im Stadt- Asphalt.

Und doch, trotz Talmi und Lametta-

In Poetry und auch in Prose

Sing ich dein Lob, my dear Minetta,

Und nicht des Reimes wegen bloss.

Wenn einst, in friedlicheren Zeiten

Die Länder um das Vorrecht streiten

(Scheint die Besorgnis auch verführt):

„Tja,welches von M.K.‘s Quartieren

Soll die „HIER WOHNTE“- Tafel zieren…?

-Ich stimme für Minetta Street.

Mascha Kaléko (1907–1975) war eine deutsch-jüdische Dichterin, die 1938 als Flüchtling aus Nazi-Deutschland in New York City ankam. Nach einem kurzen Wanderleben ließ sich die Familie Kaléko-Vinaver bis 1959 in der Minetta Street 1 im Greenwich Village nieder – einer winzigen, engen Straße am Rande der New York University. Sie und ihr Mann entschieden sich dem Sohn zuliebe für ein Leben im Village und nicht in einem typischen Einwandererviertel.

Mascha Kaléko, erschienen im Aufbau, Freitag, 26. September 1952, S. 28. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022)