Ueberfahrt

Das Gedicht von Mascha Kaléko wurde im März 1940 in den USA publiziert. Es handelt vom Heimweh, das die Autorin auf „fremden Gassen“ erlebte.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.

Als den, der hoch im Blau des Himmels wohnet,

Der uns mit Wolke, Licht und Nacht belohnet,

Sonst keinen, der in Treue zu uns hält.

Wir haben nicht ein Herz, das mit uns weint,

Nur Sturm und Meer, die leise um uns klagen.

Wir müssen alles still zu Zweien tragen.

Uns ist nicht eine Seele, nicht ein Freund.

Sei du im Dunkel nah! Mir wird so bang.

Ich habe Vaterland und Heim verlassen.

Es liegt so viel Weh auf fremden Gassen.

Gib du mir deine Hand. Der Weg ist lang.

Und ob das Schiff auf offener See zerschellt,

-Wir sind einander mit dem Blut verschrieben.

Wir haben keinen Freund auf dieser Welt,

Uns bleibt nichts als das: uns sehr zu lieben…

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heutiges Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Mascha Kaléko, Ueberfahrt, erschienen im Aufbau, Freitag 22. März 1940, S. 3. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022)