Die Sehnsucht des Vogels

Alaa Muhrez beschreibt in ihrem Essay nicht nur ihre eigenen Reflexionen zu den Themen „Heimweh“, „Identität“ und „Exil“, sondern nimmt auch die Gedanken von anderen Geflüchteten auf.

Alaa Muhrez © privates Foto

Die Sehnsucht des Vogels

Was ist der Unterschied zwischen Heimweh und Sehnsucht, nicht zu Hause zu sein?

Ich dachte über den Unterschied zwischen dem arabischen Wort Sehnsucht und dem deutschen Wort für Heimweh nach.

Fühle ich Sehnsucht oder Heimweh?

Ich habe festgestellt, dass meine Gefühle und die Gefühle derer, die ich hörte, als sie über das Heimatland sprachen, Sehnsucht sind. Wenn wir unsere Erinnerungen erzählen und sie mit Sätzen verknüpfen (es waren wunderschöne Tage, erinnerst du dich …), lächeln und träumen wir zunächst. Ich erinnere mich an nichts als schöne Dinge in Syrien. Ich fühle Syrien als weibliche Mütterlichkeit, die die ganze Zärtlichkeit der Welt enthält.

Wenn ich Syrien sage, erinnere ich mich an Freunde, Familie und meinen Bruder, der der Scheich der Jugend und die Quelle des Glücks war, und ich möchte mich an ihn erinnern, wie es in der Vergangenheit war.  So bewahre ich meine Sehnsucht ohne Weh…und sonst nichts.

Die Gegenwart bringt mir den Schmerz des Heimwehs. Die heutigen Bilder von Syrien gehören nicht zu meinen Gefühlen und Erinnerungen, die ich in meinem Herzen über meine Heimat trage.

Es ist ein Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit zur Heimat und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.

Syrien lebt mit mir in meiner Feder, meinen Farben, meiner Musik, meinem Tanz, meiner Küche und meinen syrischen Gesichtszügen, in meinem Empfang meiner syrischen und ausländischen Gäste.

Wenn ich mein Fenster öffne, fällt mein Blick auf Dinge, die ich früher in Syrien gesehen habe, zum Beispiel einen Vogel und einen Baum, und ich spüre die Brise. Ist der Vogel deutsch?

Wenn ich fühle Sehnsucht, entzündet sich in mir Energie vom Kopf bis zu den Fußsohlen. Es verändert mein Wesen, meine Gegenwart und gibt mir Kraft für meine Zukunft, trotz der Träne, die ich vor dem Spiegel in meinen Augen sah.

Was den Schmerz des Heimwehs betrifft, ich wünsche dieses Weh niemandem. Der Schmerz verlässt dich nicht auf einem deutschen Kissen, dein Nacken schmerzt, das Kissen in die Ecke des Zimmers geworfen, ist nutzlos.

Als Geflüchtete versuchen wir, uns an das neue Leben und seine Bedingungen anzupassen und uns neue Gewohnheiten anzueignen, auch wenn die meisten von uns ihre Traditionen, Lebensweisen, Geschmäcker und Kleidungstile beibehalten. Ich suche nach meinem Weg im Exil in Richtung Zufriedenheit, ohne in Konflikt zu geraten zwischen meinen Wünschen und denen der neuen Gesellschaft.

Meine Neugier wurde geweckt: Ich habe mich mit meinen Freunden im Café getroffen, es hat geregnet und wieder sah ich einen Vogel, der auf unserem Tisch vor dem Regen Schutz suchte. Wir sprachen darüber, was der Vogel für uns bedeutet. Für mich symbolisierte er Freiheit, Heimatland und Sehnsucht.

Malak, eine schöne Frau mit braunen, großen Augen, hat mit einem Lächeln im Gesicht den Vogel angeschaut und gesagt: „Ich bin wie der Vogel. Ich werde über einen kleinen Teil meines Leidens als syrisch-turkmenische Frau in Syrien sprechen. Früher betrachteten sie uns nicht als Syrer und dass unsere Loyalität der Türkei galt. Was die Türken betrifft, so sagten sie, wir seien Syrer, und ich habe seit meiner Kindheit unter Rassismus von beiden Seiten gelitten und habe mit diesem Problem gelebt. In Deutschland war ich bisher keinem Rassismus ausgesetzt. Derzeit betrachte ich mich als einen Menschen, der keinem Land, keiner Nationalität oder Religion angehört. Es ist wichtig, menschlich zu bleiben.“

Dülcin, eine kurdische Frau mit langen schwarzen Haaren hatte dieselben Erfahrungen, als sie in Deutschland Zuflucht suchte. Sie definiert sich heute als syrisch-deutsche Kurdin, die in Frieden leben möchte.

Der syrische Künstler Ahmed beobachtet im Gespräch, dass der Vogel für uns jeweils völlig andere, aber jeweils sehr schöne Bedeutungen hat: Für mich Heimat und Sehnsucht, für Malak Ruhe vor Rassismus und für Dülcin Frieden, für ihn selbst Farben und Inspiration.

Ich fühle mich im Exil wie ein Vogel, ich gehöre nicht mehr zu einem Land, ich fliege mit meinen Gedanken von Land zu Land, dabei fühle ich Sehnsucht danach, wie ich bin in jedem Land. Ich gehöre mir, nicht einem Land und das fühlt sich an wie Menschlichkeit.

„Identität ist das, was wir als Erbe hinterlassen und nicht das, was wir erben; das, was wir erfinden und nicht das, woran wir uns erinnern“ (Mahmud Darwisch, palästinensischer Dichter).

Alaa Muhrez ist eine Aktivistin für geflüchtete Frauen und engagiert sich für eine erfolgreiche Integration auf dem Arbeitsmarkt. Sie lebt seit 2015 in Deutschland und kommt ursprünglich aus Syrien. Alaa hat eine Studie zu Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch auf dem Arbeitsmarkt gemacht und dabei mit vielen Frauen über Diskriminierungsfragen gesprochen. Beruflich hat sie eine Veranstaltungsreihe initiiert, die sich an geflüchtete Frauen richtet und sie mit Informationen über Arbeitnehmerinnenrechte für ihr Arbeitsleben bestärkt.  Auf Instagram teilt Alaa ihre Erfahrungen und beantwortet Fragen rund um den deutschen Arbeitsmarkt.

Außerdem hat Alaa ein Online-Magazin gegründet, welches Informationen über den Arbeitsmarkt und alles, was damit zusammenhängt, enthält. Zur Zeit forscht sie zusätzlich unter dem Titel „Die dritte Identität im Exil“ über Geflüchtete, die sich nicht integrieren und nicht in ihr Heimatland zurückkehren können.

Im Rahmen des Projektes Flucht – Exil – Partizipation: Citizen Science zu historischen und aktuellen Fluchterfahrungen als partizipative Bildungsarbeit (FEP) hat Alaa den Essay „Die Sehnsucht des Vogels“ geschrieben, in dem sie nicht nur ihre eigenen Reflexionen zu den Themen „Heimweh“ und „Identität“ darstellt, sondern auch die Gedanken von anderen Geflüchteten beschreibt.

Der Essay „Die Sehnsucht des Vogels“ wurde erstmalig im Rahmen des Projektes Flucht – Exil – Partizipation: Citizen Science zu historischen und aktuellen Fluchterfahrungen als partizipative Bildungsarbeit auf der Webseite vom We Refugees Archiv veröffentlicht (18.10.2023).