„Gibt es Schokolade, wo Du herkommst? Gibt es Wohnhäuser?“

Alaa Muhrez erzählt über ihre Erfahrungen des Ankommens und ihren Alltag im Exil, über Idenditätsfragen und Erfahrungen von Ausgrenzung.

Womit fängt Ankommen an? Mit der Überquerung der Grenze? Mit dem Spracherwerb? Wenn man sich ein soziales Netz aufgebaut hat? […] Zunächst treibt einen die Angst ins Exil: Angst vor Krieg, Angst vor Verfolgung. Dann warten neue, andere Ängste in Deutschland. Wie geht es meiner Familie? Werde ich mir hier eine Zukunft aufbauen können? Man wechselt ständig verschiedene Ängste gegeneinander aus.

© Alaa Muhrez
Alaa Muhrez © Minor

In Deutschland empfinde ich als Geflüchtete oft eine Distanz zu anderen Menschen. In der Heimat fühlte man sich nicht nur seinem Freundeskreis und Familie näher, auch in der Gesellschaft fühlte sich Zugehörigkeit viel selbstverständlicher an. […] Die Pandemie wirkt für Geflüchtete besonders isolierend. Es werden nicht nur die Kontakte vor Ort durch Ausgangsbeschränkungen reduziert. Auch die Kommunikation mit der Familie in der Heimat ist erschwert. In Syrien gibt es nicht überall Internet und durch Corona kann man nicht immer das Haus verlassen, um an Orte mit Internet zu gelangen. Manchmal kann die Familie zu Hause nur einmal im Monat Fotos von den Enkeln sehen.[…]
Kinder im Exil auf die Welt zu bringen ist schwer. Die Kinder haben keine Verwandten um sich herum. Wie gehen die Kinder psychisch damit um? Werden die Großeltern fehlen? Wird Exil zur prägenden Erfahrung der Kindheit? Viele Kinder sind hier geboren, aber viele Erwachsene, selbst wenn sie schon lange in Deutschland sind, fühlen sich oft nicht als Teil der Gesellschaft. Junge Menschen wissen oft wenig von der eigenen Herkunft. Alle fühlen sich auf unterschiedliche Arten fremd: die Älteren in der deutschen Kultur und die Jüngeren in der syrischen Kultur. Wenn man sich wünscht, dass die Kinder die eigene Kultur kennenlernen, wie kann man das bewerkstelligen, wenn man umgeben von einer anderen Kultur ist?[…]
Im eigenen Land hatte man sich diverse Qualifikationen erarbeitet und in Deutschland muss man trotz der ganzen Erfahrung von vorne anfangen. Der Wert der Abschlüsse wird verkannt und man bekommt Jobs unter der eigenen Qualifikation angeboten. Die Struktur des deutschen Arbeitsmarkts drängt Menschen in die Schwarzarbeit, auch wenn sich die Menschen reguläre Beschäftigungen wünschen. Die Nicht-Anerkennung von Qualifikationen ist ein großes Problem. […] Arbeitgeber*innen unterschätzen Geflüchtete oft und stellen Ihre Qualifikationen und Erfahrungen in Frage. Und in Bezug auf Deutschkenntnisse wird mit zweierlei Maß gemessen. Während Menschen aus Spanien oder Indien problemlos Englisch bei der Arbeit sprechen können, wird bei Geflüchteten aus muslimischen Ländern immer verlangt, dass Deutsch gesprochen wird, auch wenn das für die Stelle eigentlich nicht erforderlich wäre. Auch wenn man selbst besser qualifiziert ist, haben manche Kolleg*innen das Gefühl, sie seien besser, nur weil sie Deutsche sind.[…]

Kopftuch tragen erzeugt bei manchen Menschen Zuschreibungen, die nichts mit dem eigenen Leben zu tun haben. Das Stichwort „Flüchtling“ bringt bei Menschen eine einheitliche Reaktion hervor. Dabei sind Generationen, Persönlichkeiten, Berufe und Länder verschieden. Die Mehrheitsgesellschaft glaubt, dass bestimmte Jobs nicht zu Geflüchteten passen oder dass sie den Zugang von Geflüchteten zu diesen Jobs verhindern dürfen.[…]
Die vielen Anstrengungen, die zusätzlich hinzukommen, schlauchen. Man kann nicht nur man selbst sein, sondern muss auch ständig öffentlich Muslima, Syrerin und Geflüchtete sein. Der eigene Name gewinnt im Exil an Bedeutung. Auf der einen Seite stellt man sich selbst mehr die Frage nach der eigenen Identität. Durch das häufige Alleinsein leistet einem der eigene Name aber auch Gesellschaft.[…]

‚Gibt es Schokolade, wo Du herkommst? Gibt es Wohnhäuser?‘ Die eigene Zivilisation wird in Frage gestellt und man muss sich absurde Fragen gefallen lassen.

 

Infolge des Kriegs in Syrien flohen Alaa Muhrez und ihr Mann 2013 nach Ägypten. Nachdem Abdel Fatah El-Sisi dort durch einen Staatsstreich zum Präsidenten wurde, verstärkten sich die Probleme für Geflüchtete: Es wurde immer schwerer, eine Arbeit zu finden, sodass Alaa und ihr Mann beschlossen, nach Deutschland zu gehen. Von Ägypten nach Italien fuhren sie und ihr Mann mit einem kleinen Boot, auf dem 400 andere Menschen waren. Sie wechselten mehrmals das Boot. „Wenn man aufstand, konnte man sich nicht wieder setzen“, erklärt Alaa, so eng sei es gewesen. Nach der gefährlichen Reise kamen sie in Catania, Sizilien an. Dort wurden ihre Personalien aufgenommen. Sie wussten, dass es für die Weiterreise schwierig sein könnte, sich in Italien um einen Aufenthaltstitel zu bewerben, weshalb sie die Aufnahme der Papiere nicht abwarteten.

Mit dem Flugzeug gelangten sie nach Österreich und von dort 2015 nach München. Von München wurden sie nach Leipzig gebracht, und ihnen wurde eine Wohnung in einem Dorf in der Nähe zugewiesen. Alaa berichtet über mehrere Vorfälle von Diskriminierung, die sie dort erleben musste. Nach über einem Jahr kamen sie nach Berlin, wo sie nach einiger Zeit eine Wohnung und Arbeit fanden. Alaa erzählt, warum sie und ihr Mann Syrien und Ägypten verlassen mussten, und warum sie entschieden nach Deutschland zu kommen. Alaas erste Wahl in Deutschland wäre München gewesen, doch in Berlin sieht sie auch Vorteile, darunter die Begegnung mit unterschiedlichen Menschen und Lebensrealitäten, die ihr zuvor verschlossen gewesen waren.

In einem Online-Workshop, den die Stiftung Exilmuseum Berlin und das We Refugees Archiv im Januar 2021 organisierten, sprachen Menschen mit Fluchterfahrungen über ihr Exil in Berlin und entwickelten gemeinsam ein ABC des Ankommens.