Hertha Nathorff versucht ihr Kind, ihren Mann und sich selbst zu retten

In Auszügen aus dem Tagebuch Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945 schildert Hertha Nathorff eindringlich die für sie unfassbare Zerstörung ihres Lebens und die Vertreibung aus ihrer Heimat. Sie war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin und arbeitete bis 1934 als Oberärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, danach in eigener Praxis und gleichzeitig im Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 ihre Approbation und im Herbst 1938 ihre ärztliche Zulassung. Mit Hilfe amerikanischer Verwandter gelang es ihr, nach London zu emigrieren, Anfang 1940 setzte sie ihre Reise nach New York fort.

In diesen Auszügen aus dem Tagebuch schildert Hertha ihre Versuche, ihr Kind, ihren Mann und sich selbst zu retten. Ein Visum oder eine Genehmigung würde ihr Leben retten. Schließlich hatte sie Glück, die Familie Nathorff verließ Deutschland im April 1939.

12. November 1938

Wieviele Menschen haben wohl heute hier genächtigt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ein großer Frühstückstisch gedeckt war, als ich schon in aller Frühe mich auf den Weg zum amerikanischen Konsulat machte, um eine Bestätigung zu erbitten, daß wir schon im August unser Affidavit 11Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten abgegeben hatten. Unzählige Menschen standen mit mir an dem kalten dunklen Novembermorgen in dem feuchten Vorgarten des amerikanischen Konsulats. Frauen, blaß, vergrämt, Frauen aus Berlin, Leipzig, Breslau, alle tragen das gleiche Leid, und sie schweigen, handeln schweigend für ihre Männer und weinen im Herzen- Frauenkreuzzug! Stundenlang stehe ich gleich ihnen in Nässe und Kälte, in Regen und Schnee, und plötzlich fällt es mir ein … Mehr als 6 Stunden habe ich gestanden, und er hat nicht noch die 2 Minuten zur Beantwortung meiner kurzen Frage Zeit gehabt. […]

17. November 1938

Ein Telegramm lädt uns nach Kalifornien ein. Jetzt, wo es zu spät ist. Doch ich ging mit dem Telegramm zum Konsulat. Stundenlang stand ich wieder in Kälte und Nässe. 5 Stunden habe ich gestanden, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Im Erdgeschoß des Konsulats befindet sich wohl der Wertheimsche Teeraum, doch das übliche Schild: Juden unerwünscht!, sagt uns deutlich genug, daß wir hier nicht einmal eine Tasse Tee verabreicht bekommen. Endlich bin ich im Konsulat an der Reihe. Besuchsvisum für Amerika, ausgeschlossen. Bescheinigung, daß wir das Affidavit eingereicht haben, nicht zu erhalten. […]

24. November 1938

Stundenlang warte ich auf der Auswandererberatungsstelle, um eine Bescheinigung für die Ausstellung eines Passes zu bekommen. „Ein Paß kann nur ausgestellt werden, wenn Sie einen ganz bestimmten Ausreisetermin angeben können“, und das kann ich nicht. Ich bespreche mit Freunden, was ich tun soll. Buchen, irgendwohin, rät man mir. Ich telegraphiere in alle Welt. Ich bekomme wilde Angebote. Ein Visum nach Chile für 3000 RM, erhältlich durch einen österreichischen Nazi. So verdienen sie an unserem Unglück. Ich bin völlig verzweifelt. Ich habe ja kein Geld dafür. Ein Patient meines Mannes, der aus England zu einer Konferenz hier ist, schickt mir seine Sekretärin, ob er etwas für mich tun kann. „Rettet mein Kind!“ Mehr weiß ich nicht zu sagen. Inzwischen hat man mir auf einem Reisebüro nach stundenlangem Verhandeln eine Buchung nach Kuba für Februar angeboten. Es ist die einzige legale Buchung, die ich noch machen kann. Ich kabele nach Amerika und bitte flehendlichst, das verlangte Vorzeigegeld für Kuba zu deponieren. […]

8. Dezember 1938

Endlich habe ich die längst erbetene Wartenummer vom Konsulat erhalten. Nun will ich versuchen, durch die Vermittlung englischer Freunde einen Zwischenaufenthalt in England zu erhalten. Die Kubasache scheint nicht ganz so einfach zu gehen, wie man mir versprach. […]

15. Januar 1939

Es ist unmöglich zu erfahren, wann ungefähr wir nach USA können, und ohne diesen Nachweis bekommen wir das Permit für England nicht. […]

9. Januar 1939

Aber durch ihn haben wir die Bestätigung erhalten, daß nach Mitteilung des amerikanischen Konsulates wir im August 1939 mit der Einreise nach USA rechnen können. Sofort gebe ich diese Nachricht telegraphisch nach England weiter. […]

1. Februar 1939

Das Permit für England ist da! Der Aufenthalt für ein halbes Jahr ist genehmigt.  So lange brauchen wir ja gar nicht dort zu sein, da wir ja im August schon nach Amerika weiter können. […]

2. März 1939

Mein Kind ist fort! Früh um 6 Uhr haben wir den Jungen zum Schlesischen Bahnhof gebracht zum Kindertransport nach England. Wie erschütternd das war! […]

7. April 1939

Nun haben wir unsere Ausreise endgültig festgelegt: Noch knapp 3 Wochen. Niemandem sage ich den genauen Termin. Aber bei vielen, die heute sagen: „Ich sehe Sie doch bestimmt noch einmal“, weiß ich, daß es schon zum letzten Mal ist, daß ich sie nie, nie mehr wiedersehen werde, und daß ich bald lebendig tot für sie sein werde, denn schreiben von draußen, ich kann es nicht, darf es nicht, ich würde sie ja in Gefahr bringen. […]

27./28. April 1939: Notizbucheintragung im Zug nach Bremerhaven

Es ist vorbei. Um Mitternacht sind wir fortgefahren. Durch den Tiergarten, durch die hellerleuchtete Prachtstraße, in der die Pylonen zu Ehren des Führers glühen, brachte uns das Auto zum Lehrter Bahnhof.

Ich bin nicht mehr gewöhnt, ruhig zu schlafen. Überall lauert Angst und Gefahr, bis ich endlich dieses Land, das meine Heimat war, verlassen habe…

 

Zum letzten Mal fahr‘ ich durch lang vertraute Straßen

Um Mitternacht. Und die Pylonen glühen.

Ein Volk muß jubeln, seinen Führer ehren,

Indess‘ wir heimatlos von dannen ziehen.

Mein Herz ist schwer, doch tränenlos mein Auge.

Es starrt ins Weite. Und mit Seherblick

Steht vor mir

-grauenhaft und dunkel

Des Landes Zukunft und des Volks Geschick.

Und Fackeln, Fackeln seh ich glühen

Wild lodernd schon in kurzer Zeit.

Und Menschen, Menschen seh ich ziehen

Und sehe nichts als Krieg und Leid.

Und ahn‘ und weiß in dieser Stunde,

Daß Schicksal ewig Rache sinnt.

Wo heute Jubel, Volksbeglückung, –

Der Untergang bereits beginnt. 

[…]

28 April 1939

Kein Blick geht mehr zurück nach diesem Lande, das mir immer mehr entschwindet, arm, bettelarm, zerrissen an Leib und Seele, so gehe ich in die unbekannte Ferne, voller Sorge um die, die zurückgeblieben, voller Sorge um das eigene Geschick, aber ich bin frei, ich darf schlafen ohne Angst, gehen ohne Gefahr, und ich darf hoffen, hoffen auf Arbeit und Aufbau für mich und mein Kind, in einem freien Lande, dem ich dienen will, wie ich einst der Heimat diente. Ich will mir eine neue Heimat verdienen!

 

 

 

    Fußnoten

  • 1Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14-jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York. In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe für den Lebensunterhalt der Familie – wie viele andere Frauen im Exil, die auf ihre Karriere verzichten mussten. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit und das Geld für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: Sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club. In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff  Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 105, S. 127-164.