Herman Kruk beschreibt die Flucht aus Warschau

Herman Kruk schreibt in seinem Tagebuch über seine Flucht von Warschau nach Vilnius, September 1939.

7. September 1939

Die Straße, auf der wir unterwegs sind, ist noch voller mit Geflüchteten als gestern. Alle rennen, rennen als würden sie verfolgt. Alle machen den Eindruck, dass sie wüssten, es wäre zu spät. Wir finden heraus, dass heute bei Tagesanbruch im Radio alle Männer beordert wurden, Warschau zu verlassen. Jetzt wird die Nervosität unserer Frauen klar, als wir früher am Tag mit ihnen telefonierten. Die Menschen, die Warschau heute verlassen haben, erzählen furchtbare Geschichten. Die Felder rund um die Stadt sind überflutet von Menschen: tausende Fußgänger – Juden und Christen, Männer und Frauen, Alte und Junge, ein Meer von Limousinen, Militärfahrzeugen.

Um ungefähr 9 am Morgen kam der erste Luftangriff und hielt den ganzen Tag pausenlos an. Dieser Tag war extrem schwer. Dutzende Male rannten wir von den Wagen weg, um uns vor den Bombern zu verstecken. Furchtbare Szenen fanden im Wald statt. Frauen und Kinder zittern. Männer, müde vom Rennen, werfen ihre Schuhe von sich und laufen barfuß. Pferde sind verängstigt vom Bombardement und reißen mit den Wagen aus, lassen die Mitfahrenden im Wald zurück.

Jeder bebt vor Angst. Sobald wir Explosionen hören, klammern sich die Menschen aneinander. Die Menschen sind nicht fähig, still liegenzubleiben, und rennen einach ziellos drauflos. Menschen rennen hintereinander her. Manchmal verlieren welche den Verstand und rennen weg von der Gruppe in der Hoffnung, dass es sie retten wird. Menschen laufen ihnen hinterher und bringen sie zurück. Aller Augen lodern. Die Erde bebt. Der Wald bäumt sich auf. Das Geratter von Maschinengewehren lässt alles erschüttern und die Furcht schwillt an. Die Straße von Otwock nach Garwolin war da eine furchtbare Hölle.

12. September 1939

Es ist noch Morgengrauen. Wir gehen in die Wälder in Richtung des Dorfes Luty.

Im Dorf sind wir auf einige Wagen voll Menschen getroffen, die wie wir hergekommen sind, um sich zu verstecken.

Jeder unter der Neuankömmlingen hat viel auf sich genommen, um einen besseren Unterschlupf „zu bekommen“, einige Bäume wo man sich verstecken könnte oder etwas ähnliches.

An einer der Dorfhütten bemerkten wir einen jüdischen Namen. Wir gehen herein – sie sind wirklich Juden! Wir verbringen drei Tage in diesem Dorf, mit dieser jüdischen Familie. Wir kamen dort einen Tag vor Rosch HaSchana an und verschwanden, als das Fest vorüber war.

 

Übersetzung vom Englischen ins Deutsche © Minor Kontor.

Einige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen beschließt Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, angesichts der immanenten Gefahr durch die heranrückende Wehrmacht aus Warschau zu fliehen. In seinem Tagebuch beschreibt er das Chaos, in dem er und andere fliehende Menschen sich auf der Flucht befinden. Zudem berichtet er von seinem Aufenthalt in einem Dorf namens Luty. Dort feiert er Rosh HaShanah, das jüdische Neujahrsfest, gemeinsam mit anderen Geflüchteten bei einer im Dorf lebenden jüdischen Familie.

Andere Berichte über die chaotische Flucht aus dem besetzten Polen ins noch sichere Vilnius stammen von Pese R., Chaim-Leyb D. und anderen, die vom „Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939“ in Vilnius interviewt wurden. Ihre Berichte bilden die Grundlage für die im Rahmen des We Refugees Archivs entstandenen Filme „Flucht durch Polen“ und „Niemandsland“.

Kruk floh nach Vilnius. Dort lebte er fast vier Jahre und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilnius dokumentierte Kruk als Chronist und berichtete über die Unterstützungsnetzwerke für polnisch-jüdische Geflüchtete vor der deutschen Besatzung der Stadt, von seinen vergeblichen Versuchen, aus der Stadt zu fliehen, von seiner Verzweiflung über den Einmarsch der Wehrmacht und seiner Trauer über das Schicksal seiner Heimatstadt Warschau, aber auch über seine Beweggründe, das Erlebte für die kommenden Reaktionen schriftlich festzuhalten. Im Jahr 1943 wurde er in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.

Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, pp. 3-4, 11.

Übersetzung vom Englischen ins Deutsche © Minor Kontor.