Hertha Nathorffs Krankenpflegekurs für Frauen

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin. Bis 1934 arbeitete sie als leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation. Mit Hilfe amerikanischer Verwandter gelang ihr die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York. In ihrem Tagebuch befasst sich die Autorin mit ihren Erfahrungen in NS-Berlin und später in der Neuen Welt. In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe – ein sehr verbreitetes Schicksal unter Frauen mit akademischen Abschlüssen im Exil. Geld und Zeit reichten nicht um die Anerkennung der eigenen Abschlüsse voranzubringen. Frauen übernahmen oft die Rolle, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. In diesem Ausschnitt aus dem Tagebuch beschreibt Hertha, wie sie ihren ersten Kurs für Frauen, die Krankenpflege erlernen wollten organisierte.

New York vom Wasser aus, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

9. Februar 1942

Ich bin arm, mit Geld kann ich nicht helfen, aber ich möchte helfen mit dem, was ich kann, ausbilden möchte ich die Frauen, Kurse möchte ich geben, ohne Entgelt natürlich. Wenn ich doch nur einen geeigneten Raum hätte, denn in unser „Heim“ kann ich niemanden bitten. Helfen Sie mir, einen Raum zu finden, sagte ich zu der Sekretärin, ahnungslos, daß diese meinen Namen von drüben, wenn auch nicht mich persönlich, kannte. […]

22. Februar 1942

Heute vor zwei Jahren sind wir hier angekommen. Trotz alles Schweren, allen Kämpfens um Existenz und Lebensraum ist der Rückblick „erfreulich“. Es geht aufwärts und wir haben uns. […]

Nach langen Verhandlungen habe ich heute den ersten Kurs für Frauen, die Krankenpflege erlernen wollen, begonnen. Die Organisation, bei der ich damals vorsprach, hat sich bereit erklärt, mir an einem oder zwei Abenden der Woche einen Raum in ihren heiligen Hallen zur Verfügung zu stellen, um dort die Frauen zu unterrichten -ohne Entgelt – natürlich, aber: sie haben eine Bedingung daran geknüpft. Ich soll dafür Mitglieder für sie werben. „Ich bin dazu herzlich ungeeignet, und ich übe niemals Zwang aus, aber, wenn Sie durch meine Kurse Mitglieder bekommen, so soll mich das freuen“, sagte ich kurz, und damit waren sie einverstanden. Ich bin froh, wie schon lange nicht mehr, denn nun kann ich doch zumindest in dieser Weise geben, etwas für Menschen tun, möge es zum Segen werden! […]

20. August 1942

Ich gebe immer wieder Kurse, die Frauen sind so dankbar, und ich sorge, daß sie Arbeit bekommen. Meine „Stellenvermittlung“ wird bekannt, komisch, wie schnell sich in der Millionenstadt etwas herumspricht! Inzwischen haben sie mich gegen meinen Willen zur Präsidentin der sog. Frauengruppe gemacht. Alle meine früheren Schülerinnen haben darauf bestanden, daß ich es tue, und nun haben wir regelmäßige Zusammenkünfte mit musikalischen und anderen Vorträgen. Es sind ja so viele Menschen der Immigration hier, die glücklich sind, einmal wieder gehört zu werden, und ich gebe ihnen nun diese Möglichkeit, so weit ich kann.

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie  mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York.  In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe – ein sehr verbreitetes Schicksal unter Frauen mit akademischen Abschlüssen im Exil. Geld und Zeit reichten nicht um die Anerkennung der eigenen Abschlüsse voranzubringen. Frauen übernahmen oft die Rolle, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.  In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit und das Geld für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club.  In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 105, S. 194-195, S. 200.