Hertha Nathorffs Ankunft in New York

In Auszügen aus dem Tagebuch Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945 schildert Hertha Nathorff anschaulich die für sie unbegreifliche Zerstörung ihres Lebens und die Vertreibung aus ihrer Heimat. Sie war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin und arbeitete bis 1934 als leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation. Mit Hilfe amerikanischer Verwandter gelang ihr die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York.

In diesen Ausschnitten aus dem Tagebuch stellt Hertha ihre ersten Eindrücke, Gedanken und Gefühle als Geflüchtete in New York dar.

 

New York vom Wasser aus, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

22. Februar 1940

Neue Heimat? Ob es das wohl gibt, fragte ich mich zögernd, und ich konnte mir selbst keine Antwort geben. Plötzlich, an einem frühen Morgen stürzte mein Junge zu mir in die Kabine –

„Mutti, Mutti, komm‘ schnell, man sieht die ersten Lichter von New York.“ Widerwillig ließ ich mich an Deck schleppen – ich teilte nicht die freudige Erregung der übrigen Passagiere – aber ich sah Licht, schimmernde Lichter durch die frühe Morgendämmerung. Lichtschein aus den Wolkenkratzern New Yorks, die sich gigantisch, gespenstisch vom Horizont abhoben. Mechanisch schlug ich es auf und schrieb, oder besser kritzelte, am schwankenden Tisch den 22. Februar 1940, auf hoher See: „Die ersten Lichter von New York winken mir am frühen Morgen willkommen. Eine leise Hoffnung erfüllt mein Herz. Gott, gib mir Liebe und Kraft, um mir und den meinen eine neue Heimat zu verdienen, ihr dienend mit Liebe und Treue so wie ich stets der alten gedient…“

Zuerst nun: Zollkontrolle, unsere kleinen Köfferchen waren schnell durchgesehen -wir durften ja nur das Nötigste mitnehmen- allerdings, das schwarze Papier, das ich zum Schutz über unsere Sachen gebreitet hatte, schien dem Zollbeamten verdächtig.

…und dann hörten wir die Frage: „Wo wollt Ihr denn jetzt wohnen?“ Keiner hatte ein noch so einfaches Zimmer für uns gemietet, für Unterkunft gesorgt, wohl aus Angst, daß sie dieselbe hätten bezahlen müssen!

Wir mußten annehmen, denn wir hatten ja kein Geld, um in einem Hotel auch nur für ein paar Tage Unterkunft zu suchen, so waren wir zumindest zwei Tage und Nächte „geborgen“ und danach, so dachte ich, würde ich schon irgendwie Arbeit finden, so daß wir ein möbliertes Zimmer würden bezahlen können. So trennte das neue Land uns schon in den ersten Stunden unserer Ankunft, welch ein trauriges Omen.

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14-jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York. In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe für den Lebensunterhalt der Familie. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: Sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club. In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff  Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 105, S. 165.