New Yorker Sonntagskantate von Mascha Kaléko

In diesem Gedicht stellt die Autorin Mascha Kaléko das Lokalkolorit von New York und ihrer Bewohner dar. Die Beschreibung umfasst das typische Wochenende von New Yorkern: dazu gehört Spaziergang mit Kindern, Kirchenbesuch sowie Frühstück mit der Familie.

Gedicht „New Yorker Sonntagskantate“ aus der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau © JM Jüdische Medien AG / Serenade Verlag AG

Die Kinder spielen vorm Haustor, sonntagsreinlich,

Den „Daddy“ führt spazier’n sein Dackelhund.

Die „Times“ im Arm wiegt heute sieben Pfund.

-Vielleicht nur sechs. Doch seien wir nicht kleinlich!

Aus Küchenfenstern duften Roast und Pie.

Den Glocken melden, dass es Sunday sei.

 

Die Kirchen des Bezirks, in dem wir wohnen,

Bedienen zirka zwanzig Konfessionen

Wohlassortierter Christen und Buddhisten,

Presbyterianer, Hindus und Baptisten.

Und selig wird bei Chor und Orgelton

Ein jedermann nach seiner Konfession.

 

So regeln Mittag legen sechs Millionen

-Vielleicht nur fünf- die „Comics“ aus der Hand

Und kauen ihren Toast (leicht angebrannt),

Nebst Schinkeneiern, Vollmilch und Melonen;

Und Vater lauscht, getreu der Tradition,

Den Gotteswort der Fernseh- Funkstation.

Miss “Teenage“ harrt, geschniegelt und gebügelt;

Der Ausgehschmuck (echt Woolworth) glitzert toll:

Von Eros sowie Mister Ford beflügelt,

Kaugummiwiederkäuend, naht Apoll.

Wie diese zwei den Abend absolvieren,

Lässt sich millionenfach multiplizieren:

 

Vom ersten „Martini“ zum letzten Kaffee

Rollt alles sich ab nach bewährtem Klischee,

Denn was sich schickt und wann, wenn zwei sich lieben,

Ist gottseidank ausführlich vorgeschrieben

Und führt, sofern man diplomatisch war,

Zum „Happy End“. As heißt,  zum Traualtar.

 

„What´s wrong with that? You sure are sentimental!“

-Gewiss: ich bin „hopelessly continental“.

Ein Ueberbleibsel längst verschollner Art,

Leid‘ ich am Klima dieser Gegenwart.

Verzeihen Sie den Ausflug ins Private…

Schluss der New Yorker Sonntagskantate.

Mascha Kaléko (1907–1975) war eine deutsch-jüdische Dichterin, die 1938 als Flüchtling aus Nazi-Deutschland in New York City ankam. Nach einem kurzen Wanderleben ließ sich die Familie Kaléko-Vinaver bis 1959 in der Minetta Street 1 im Greenwich Village nieder – einer winzigen, engen Straße am Rande der New York University. Sie und ihr Mann entschieden sich dem Sohn zuliebe für ein Leben im Village und nicht in einem typischen Einwandererviertel. In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Mascha Kaléko, „New Yorker Sonntagskantate“, erschienen im Aufbau, 23. Mai 1958, S. 10. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022).