Selafet Hizarçi über familiäre und nachbarschaftliche Unterstützungsstrukturen
Selafet Hizarçi kam 1969 aus der Türkei nach Deutschland, wo sie anfing zu arbeiten, die Sprache zu lernen und eine Familie gründete. Im Rahmen des Projekts „Mutige Entdecker Bleiben“ spricht sie wie andere muslimische und jüdische Rentner*innen über ihre Migrationserfahrungen. In diesem Ausschnitt beschreibt sie die wichtige Rolle familiärer und nachbarschaftlicher Unterstützungsstrukturen.
Wo bekamen Sie Unterstützung?
Sehr geholfen hat uns ein Bruder meines Mannes. Der ‚Onkel‘, wie wir ihn nannten, lebte in Neukölln mit Frau und Tochter in einer großen Wohnung mit vier Zimmern und kümmerte sich um uns. Wir hatten damals kein Telefon, und wenn der Onkel länger als vier Tage nichts von uns gehört hatte, kam er mit dem Fahrrad zu uns nach Kreuzberg, um nach dem Rechten zu sehen. Später fand er für uns eine Wohnung in seiner Straße und wir besuchten uns täglich. Ich konnte meine Kinder immer zu ihm bringen, wenn ich arbeiten musste. Das war eine große Hilfe.
Auch unsere Nachbarschaft hielt zusammen. Egal welche Nationalität. Zu unserem Freundeskreis gehörten unter anderem Griechen, Jugoslawen und Polen. Meine jüdische Nachbarin war fast jeden Tag bei uns zum Essen da. Sie hatte auch wie wir keine größere Familie mehr.
Selafet Hizarçi kam 1969 mit ihrem späteren Mann aus der Türkei nach Deutschland. Sie lebten zusammen in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Selafet begann, in einem Restaurant zu arbeiten, später in einer Konservenfabrik und als Reinigungskraft in einem Kindergarten. Obwohl sie Analphabetin war und nie eine Schule besuchte, lernte sie mit der Zeit Deutsch. 1975 und 1983 kamen ihre Söhne auf die Welt. 1987 lag sie mit einer Meningititserkrankung vier Monate im Krankenhaus, davon zwei Monate im Koma. Heute leben Selafet und ihr Mann in Berlin-Neukölln.
Selafet Hizarçi wurde im Rahmen des Projekts „Mutige Entdecker Bleiben“ zu ihren Erfahrungen des Ankommens in Deutschland befragt. Das Buch, in dem jüdische und muslimische Einwander*innen der Generation nach 1945 zu ihren Erfahrungen des Ankommens in Deutschland befragt werden, entstand im Rahmen des Projekts „Schalom Aleikum. Jüdisch Muslimischer Dialog“ vom Zentralrat der Juden in Deutschland.
Auch wenn Selafet Hizarçi und ihr Mann als Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland kamen, sind ihre Erfahrungen exemplarisch für die vieler Migrant*innen, auch die von Geflüchteten. So beschreibt sie, wie wichtig die gegenseitige Unterstützung in der Familie und Nachbarschaft beim Leben in Berlin für sie war.
Dieser Ausschnitt aus dem Interview mit Selafet Hizarçi wird im We Refugees Archiv mit freundlicher Genehmigung vom Zentralrat der Juden in Deutschland wiedergegeben.
Zuerst erschienen in:
Zentralrat der Juden in Deutschland (Hrg.), 2019: Mutige Entdecker bleiben. Jüdische und Muslimische Senioren im Gespräch. Schalom Aleikum Buchreihe 1. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich. S. 50.