İsa Artar über den Verlust und Neuaufbau seiner Identität nach der Flucht

İsa Artar geriet in der Türkei wegen seiner politischen und journalistischen Aktivitäten unter staatlichen Druck und ins Visier der Polizei. Bevor er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. In diesem Interviewausschnitt beschreibt er, warum er sich nach der Flucht zunächst identitätslos fühlte und wie ihm die Asylzuerkennung und der Wiedereinstieg ins journalistische Leben halfen, diese Identitätslosigkeit zu überwinden.

Isa Artar, privates Foto.

„Im Dezember bin ich gekommen, wir haben sofort geheiratet und ich habe den Aufenthaltstitel bekommen. Aber wenn man keinen Reisepass hat, dann geht nichts. 11Weil in der Türkei ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, konnte Isa Artar keine Dokumente im türkischen Konsulat beantragen. […]

Ich bin gekommen, wir haben geheiratet und ich habe mit dem Integrationskurs angefangen. Ich wusste nicht, dass man hier Deutsch lernen kann und so weiter. Meine Exfreundin hat sich über alles informiert. Sie hat auch rausgefunden, dass man hier als Geflüchteter oder verheirateter Mann Hartz IV bekommen kann, wenn man kein Geld hat, und dass man auch einen Deutschkurs besuchen kann bis zum Ende. Da habe ich mir gedacht: Okay, das ist für mich vorstellbar. Ich kann herkommen, Deutsch lernen und dann höchstwahrscheinlich weiterstudieren. […]

Ich hatte immer Angst davor, was passiert, wenn ich mich hier verliere. Also, was passiert, wenn ich nicht die Sprache lerne. Das war für mich unvorstellbar.

[…]

Dann musste ich Asyl bantragen, das war 2018. Weil mein Reisepass abgelaufen ist. Ich konnte ihn nicht mehr benutzen. Und in der Zwischenzeit waren meine Freundin und ich auch nicht mehr zusammen. […] Und ich musste Asyl beantragen, weil ich mich nicht ausweisen konnte. Das wurde dann auch schnell, nach einem Monat, anerkannt. Das ging richtig schnell, ich hatte auch einen Anwalt, mit ihm war es perfekt. […]

Dieser Asylstatus war für mich auch wichtig, weil ich mich immer identitätslos gefühlt habe.

Ich bin hierhergekommen. In der Türkei war ich Journalist und Student. Ich hatte ein Leben und ich konnte das alles beherrschen, ich kannte die Bürokratie und alles. Aber als ich herkam und dann diese Papiere, Hartz IV, Ausländerbehörde … Ich kannte nichts und ich konnte gar kein Deutsch. Ohne meine Freundin konnte ich erstmal nichts machen. Und für sie war es auch anstrengend, das alles zu machen. […]

Also ich habe mich irgendwie identitätslos gefühlt: Ich bin Student? Nein. Ich bin Journalist? Nein. Ich bin ein verheirateter Mann? Eigentlich nicht. Das wollte ich nicht als alleinige Identität haben. Warum bin ich hier? Ich bekomme Hartz IV, ich bin arbeitslos, ich lerne Deutsch, aber nicht mit meinem Geld, sondern mit staatlichem. […] Und Asyl wäre so eine bessere Identitätsmöglichkeit, weil es mich legitimiert: Ich habe Probleme mit dem türkischen Staat, also bekomme ich Asyl. Es ist nicht der Fall, dass ich aus der Türkei gekommen bin, einfach nur weil ich mich nicht wohlgefühlt habe. Deswegen war dieser Asylstatus für mich erstmal eine Identität. Das hat mich sehr gefreut.

Ich hatte auch immer das Ziel, dass ich hier studiere. Das war für mich auch eine Identität. Niemand hat daran geglaubt, dass ich das schaffen kann. Sie haben immer gesagt: ‚Es ist so schwer, in Deutschland zu studieren, wenn man die Sprache nicht richtig kann.‘ Und auch meine Arbeitsvermittlerin beim Jobcenter hat gesagt: ‚Sie wissen ja, dass es sehr schwer ist, hier als Nicht-Muttersprachler Journalist zu sein.‘ Und ich habe gesagt: ‚Viele Nicht-Muttersprachler arbeiten in solchen akademischen Bereichen. Warum sagen Sie sowas? Das ist schon vorgekommen, dass jemand das macht. Warum soll es nicht möglich sein.‘

Und dann habe ich das geschafft. Eigentlich wollte ich 2018 anfangen zu studieren, aber ich bin bei der Deutschprüfung durchgefallen und musste ein Jahr warten. Ich war erstmal sehr enttäuscht, aber dieses eine Jahr war eigentlich gut, weil ich viele Möglichkeiten bekommen habe […] zum Beispiel ein Volontariat-Programm bei Alex TV, das ich von der Heinrich-Böll-Stiftung empfohlen bekommen habe. […] Da habe ich ein dreimonatiges Praktikum in der Produktion gemacht und zum ersten Mal Produktionssachen kennengelernt. […] Sie haben mir auch geholfen, dass ich mit den Volontär*innen Workshops in der Journalistenschule und Deutschkurse besuche. Und ich habe für ein Projekt im Tagesspiegel – Journalist*innen im Exil – ein paar Mal geschrieben. Ohne dieses Praktikum hätte ich diese Chance nicht gesehen. Dann habe ich noch ein Praktikum bei Deutschland 2000 gemacht. Dadurch habe ich Kontakte geknüpft und diese Wege sind für mich immer noch offen. Das war für mich richtig gut.

Aber ich wollte weiterhin richtig studieren und habe dann 2019 mit dem Studium angefangen und bekomme ein Stipendium von der Hans-Böckler-Stiftung. Es geht jetzt weiter.“

 

    Fußnoten

  • 1Weil in der Türkei ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, konnte Isa Artar keine Dokumente im türkischen Konsulat beantragen.

Nachdem er bereits in der Schule und Universität politisch aktiv gewesen war, engagierte sich İsa Artar 2013 in der Gezi-Protestbewegung. [Im Jahr 2013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben.] Danach wurde er neben seinem Studium der Kunstgeschichte Chefredakteur des unabhängigen und kritischen Nachrichtenportals „Siyasi Haber“. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Entlassungen im Militär und im öffentlichen Dienst. Die staatliche Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, insbesondere Journalist*innen hat seitdem stark zugenommen. Auch İsa Artar geriet ins Visier der Behörden. Bevor jedoch Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. Mittlerweile hat er Asyl erhalten, studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und schreibt u.a. für den Tagesspiegel.

In diesem Interviewausschnitt beschreibt er, warum er sich nach der Flucht zunächst identitätslos fühlte und wie ihm die Asylzuerkennung und der Wiedereinstieg ins journalistische Leben halfen, diese Identitätslosigkeit zu überwinden. Nachdem er zunächst durch die Heirat mit seiner damaligen Freundin das Aufenthaltsrecht erhalten hatte, musste er zwei Jahre nach seiner Ankunft 2018 Asyl beantragen. Durch den gegen ihn laufenden Haftbefehl in der Türkei konnte er im Konsulat keinen Ersatz für seinen abgelaufenen Reisepass erhalten. Stattdessen erhielt er sehr schnell Asyl. Dies beschreibt er als eine bestärkende Zäsur, da nunmehr seine Flucht aus politischen Gründen offiziell anerkannt war und er mehr als die Identität des „Ehemanns“ hatte. Zudem beschreibt er, wie er sich entgegen der Zweifel seiner Umwelt durch Sprachkurse und Praktika seinem Ziel näherte, zu studieren und wieder politisch zu arbeiten.

 

 

Dies ist ein Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte.