Mitgefühl in migrantischen Gemeinschaften nach Covid-19

Pamela Kerpius, Migrants of the Mediterranean (MotM)

 

2020 war das Jahr der Pandemie, die die ganze Welt beeinflusst und das Leben eingeschränkt hat. Dabei hat sie schwere Folgen für Menschen, besonders für die Migrant*innen in Italien und Europa. Samba, Matarr, Babou und Moses sind vier von ihnen. Ihre Lebensituation hat sich durch die Corona-Krise verschlechtert, sowohl finanziell als auch sozial.

Einen Weg zu finden, zusammen zu sein, wenn die soziale Distanzierung es nicht zulässt, ist die entscheidende Herausforderung der Covid-19-Pandemie. Covid hat die globale Gesellschaft im Jahr 2020 aufgewirbelt und damit auch die Arbeitsmöglichkeiten, die uns alle betreffen – besonders die Menschen der migrantischen Communities in Italien und ganz Europa, auf die sich dieser Text konzentriert.

“One mind is not a mind,” sagt Samba, 22 Jahre alt, der aus Gambia stammt und jetzt in Rom lebt, kürzlich in einem Gespräch über die Fallen des physischen Alleinseins und vor allem der gedanklichen Isolation während des Lock Downs.

„Heute ist arancione“, orange, sagte er und bezog sich dabei auf die farblich gekennzeichneten Zonen der Aktivitätsbeschränkungen innerhalb und zwischen den Regionen in Italien.

„Wir sind manchmal arancione. Manchmal rot, manchmal orange – man es kann nicht nach vollziehen.  Man kann nicht verstehen, was sie tun“, sagte Samba über die Codes, die so schnell wechseln, dass sie mitten im Laufschritt zu passieren scheinen und die noch mehr zugenommen haben, als die Coronafälle im letzten Herbst in die Höhe schnellten.

Die Beschränkungen haben seine Arbeit unterbrochen, die auch für seine sozialen Kontakte sehr wichtig war. Er war ein Promoter, der Tickets für Führungen durch das Kolosseum verkaufte. Bis zum letzten März stand er auf der Piazza Venezia im Herzen des Zentrums von Rom und begrüßte die internationalen Besucher, wenn sie aus dem Tourbus der Firma stiegen, bei der er angestellt war.

„Es macht Spaß“, sagt Samba, „denn wenn man die italienische Sprache [die Touristen] nicht spricht, kann man trotzdem eine Verbindung herstellen.“ Samba spricht fließend Italienisch, auch wenn seine Muttersprache Englisch ist, was ihm einen Vorteil verschafft, sich mit den vielen Touristen, die in Italien Urlaub machen, zu unterhalten.

Die Begegnungen bringen ihm Freude. Anders als viele Menschen aus den migrantischen Communities in Italien hatte er einen offiziellen Arbeitsvertrag bei dem Reiseveranstalter, der über drei Jahre lief. Das bedeutete, dass seine Arbeitszeiten und sein Tarif festgelegt waren und seine Steuern beim italienischen Staat angemeldet. Ein Angebot, das Migranten häufig vorenthalten wird, deren Arbeitskraft leichter zu Schwarzmarktpreisen ausgebeutet werden kann.

Samba erhoffte sich eine Entlastung durch die Cassa Integrazione, die staatliche italienische Arbeitslosenkasse, aber sie wurde ihm verweigert, als im März, dem Monat, in dem sein Jahresvertrag erneuert werden sollte, dieser wegen Mangel an Arbeit ausgesetzt wurde. Kein Vertrag, kein Zuschuss.

Es ist ein unglücklicher Zufall des Timings, der sein Gehalt auf Null brachte und ihn dazu zwang, von seinen Ersparnissen die Miete für die Wohnung zu bezahlen, die er sich mit drei anderen teilt.

Für Matarr, 33, aus Gambia, in Termoli, einer Stadt in der Region Molise im Südosten Italiens, war es ein anderer Fall. Er hat einen Arbeitsvertrag mit der regionalen öffentlichen Verkehrsgesellschaft Azienda Trasporti Molisana (ATM).

Im März und April 2020 erhielt er 80 % seines Gehalts von der Cassa Integrazione. Matarr wäscht die Busflotte von ATM von innen und außen – „das Äußere ist einfach“, sagte er – und er führt Wartungsarbeiten an Booten oder Fähren durch, die in den Sommermonaten Passagiere transportieren, wenn das ruhigere Seewetter es zulässt. Im Winter werden die Boote in den Hafen gezogen gebracht, wo er ihre mechanischen Arbeiten erledigt.

Er kam 2014 in Italien an, nachdem er das Meer von Libyen aus überquert hatte, und spricht nach fast sieben Jahren im Land fließend Italienisch. Er besuchte die Abendschule und erwarb ein Sprachzertifikat und setzt sein Studium fort, um sich weiter zu verbessern.

Doch sein Bestreben, sowohl seine Italienischkenntnisse als auch seinen beruflichen Status zu verbessern – er lernt auch für seinen Busführerschein, um sich bis zum Fahrer hochzuarbeiten – wird durch sein Mitgefühl für andere erschwert.

„Wir teilen alles [in Gambia]“, sagt Matarr, „was wir verdienen, ist zu wenig, um allein zu leben.“ Er schickt ein Zehntel seines Monatsgehalts von 1.200 Euro an seine alternde Mutter, die kein Sicherheitsnetz einer staatlichen Rente hat. Ihr eigener  Verdienst aus der Arbeit in einem Familienrestaurant ist so gering, dass Matarr ihn als „von der Hand in den Mund“ bezeichnet. Gerade genug, um Wohnung, Nebenkosten und etwas Essen zu bezahlen, aber nichts, um sich etwas für schwierigere Monate, geschweige denn eine Rente, zurückzulegen.

Sein Mitbewohner, ein Senegalese, der den Großteil seiner Arbeit im Restaurant verlor, als Covid-19 zuschlug, ist ebenfalls auf Matarrs Unterstützung angewiesen. Sein Vertrag war auf Halbtagsschichten ausgelegt, vier Stunden pro Tag – statt der 8, die er tatsächlich arbeitet. So spart sein Arbeitgeber angesichts der niedrigen oder unsicheren Einnahmen.

Das heißt, der Lohnanteil, den Matarrs Mitbewohner von der Cassa Integrazione erhält, basiert auf der Hälfte dessen, was er tatsächlich verdient, so dass er eine Rückerstattung, die nur einen Bruchteil seiner gesamten monatlichen Lebenshaltungskosten ausmacht.

Matarr übernimmt den Rest, aber er sagt, dass Verträge wie der seines Mitbewohners bei Migrant*innen und italienischen Arbeitern gleichermaßen üblich sind.

Ohnehin geht es ihm nicht darum, wie viel er individuell verdienen und ausgeben kann. „Ich brauche kein Gehalt, um reich zu sein“, sagt Matarr, „nur um zu leben.“ Das Gleiche wünscht er sich für seine Freund*innen und Nachbar*innen, versteht aber auch, dass das schwer zu erreichen ist.

The inside of Gran Ghetto, in Foggia, Italy. 8 October 2019 © Pamela Kerpius

Die Agrarindustrie in Italien ist berüchtigt für ihre „lavoro nero“, die Schwarzarbeit, die Migrant*innen auf dem Feld ausbeuten. Einige werden in verzweifelte Lebensbedingungen in Ghettos gezwungen. Sehr häufig werden die Menschen für weniger als fünf Euro pro Stunde für eine Schicht bezahlt, die bis zu 12 Stunden dauern kann.

Diese Menschen, sagt Matarr, saßen zu Hause fest, ohne Bescheinigung, dass sie berechtigt waren, zur Arbeit zu gehen, was ihre Sozialisierung einschränkte; und sie hatten weder Essen noch staatliche Unterstützung. An diesem Punkt „gibt es keine Möglichkeit, sich zu integrieren, es gibt keine Zukunft“ für sie, sagt Matarr.

Und er ist nicht der Einzige, der das bemerkt. Jeder in der Migrantengemeinschaft wird Zeuge von Freunden, Nachbarn, oder andere unbekannte afrikanische Migranten, die obdachlos auf der Straße leben.

„Ich habe Freunde und viele andere Leute, die mir von den Problemen erzählen, mit denen sie konfrontiert sind“, sagte Babou, 31, in Mestrino, einer Stadt im Nordosten Italiens nahe Padua.

Sein Ansatz wird auch von Mitgefühl geleitet. Er hat obdachlose Freunde zum Duschen und Essen bei sich aufgenommen und ihnen manchmal erlaubt, in seinem Wohnzimmer zu übernachten. Es können Nigerianer, Kameruner oder Gambier sein – es ist egal.

„Egal“, sagt er, „ich will helfen. „Wenn er sie in Not sehe, „will ich sie nur glücklich sehen, happy.“

Obwohl er seinen Job als Vorbereitungskoch behalten hat, erlitt das üblicherweise belebte Dine-in-Restaurant Le Fornace in Mestrino, in dem Babou arbeitet, Verluste und musste Leute entlassen. Einer von ihnen war der Tellerwäscher Buba (Gambia), der die letzten sechs Monate hauptsächlich zu Hause saß. Wenn keine Kunden im Restaurant speisen, gibt es auch kein Geschirr zu spülen.

(R-L) Babou, Buba and their colleague at La Fornace, Mestrino, Italy. 13 September 2019 © Pamela Kerpius

Babous Arbeitszeiten und damit auch sein Gehalt wurden reduziert, da Le Fornace nun ab 19 Uhr nur noch für Take-away-Bestellungen geöffnet ist und um 21:30 Uhr schließt, um die in der Region geltende Sperrstunde von 22:00 Uhr einzuhalten. Was normalerweise eine 10-Stunden-Schicht pro Tag für ihn wäre, hat sich auf vier reduziert.

80 % seines vertraglich vereinbarten Gehalts wurden ihm auch von der Cassa versprochen, aber es kam zu spät und er verpasste zwei Mietzahlungen. Er befindet sich jetzt in einer Rückzahlungsphase mit seinem Vermieter.

Babou geriet so sehr in finanzielle Not, dass er selbst zeitweise kein Geld für Lebensmittel hatte. Sein Manager Stefano im Le Fornace hat ihn mit Lebensmitteln und warmen Mahlzeiten unterstützt. Seine Kollegen im Le Fornace behandeln ihn wie eine Familie.

„Das kann ich über Italiener sagen“, sagt Moses, 35, aus Nigeria und wohnhaft in Baexem, Niederlande, „sie haben ein Herz zum Geben.“ Er lebte jahrelang in Isernia, Italien, in der Region Molise, wie Matarr, bevor er im September letzten Jahres in die Niederlande zog.

Moses in Isernia, Italy. 24 April 2019.© Pamela Kerpius

Sein Zeugnis stammt aus der Zeit, als Lebensmittelgeschäften stand, und den Kunden beim Tragen ihrer Tüten behilflich war, aber meistens wurde ihm das Geld einfach ohne Gegenleistung ausgehändigt. Ansonsten gab es keine Arbeit für ihn, außer einem gelegentlichen lavoro nero auf einem Bauernhof.

Moses‘ Arbeitslosigkeit geht in den Niederlanden weiter, da er sich in einer Warteschleife zwischen der italienischen und der niederländischen Regierung wegen seiner Aufenthaltsgenehmigung aufgrund der Dublin-Bestimmungen befindet.

Für ihn und die überwiegende Mehrheit der Migrantengemeinschaft ist die Pandemie Nebensache. Schon vor Covid-19 waren die Top-Schwierigkeiten unter den aus afrikanischen oder anderen Ländern eingewanderten Menschen der langsame Erwerb von Dokumenten oder die Verweigerung von Dokumenten und der Mangel an Arbeit.

Die Pandemie hat diese Probleme und die Marginalisierung, unter der sie ohnehin schon litten, nur noch verstärkt.

Die Frage ist, ob Mitgefühl und Inklusion, wie dies in den migrantischen Communities vorgelebt wird- zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt führen kann.

Samba sagte, dass er im Moment zwar am Boden liegt, aber nicht am Ende ist. „Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe nicht aufgehört,“ sagte Samba, „Ich werde weitermachen.“

Wir wären klug, seinem Beispiel zu folgen.

Pamela Kerpius ist die Gründerin und Italien-Korrespondentin von Migrants of the Mediterranean (MotM). MotM ist eine Organisation für humanitäres Storytelling, die die individuellen Fluchtgeschichten der Menschen dokumentiert, die das Mittelmeer von ihren Herkunftsländern nach Italien und darüber hinaus überquert haben.

Geschrieben von Pamela Kerpius für We Refugees Archiv in Februar 2021

Genutzte Links:

• http://www.migrantsofthemed.com/motm-exclusive-going-homeless-in-gran-ghetto

• http://www.migrantsofthemed.com/routed-magazine-lost-humanity-in-human-resources

• https://www.migrantsofthemed.com/meet-baboucarr

• https://www.migrantsofthemed.com/meet-moses