Lebenskünstler:innen

Die selbstverwalteten jüdischen DP-Lager entwickelten sich binnen weniger Monate zu kleinen Städten mit Schulunterricht, beruflichen Ausbildungen und kulturellen, politischen, sportlichen und künstlerischen Angeboten.

Kinder beim Turnen, ca. 1946 © American Jewish Joint Distribution Committee Archives, NY_02741

Kinder lesen die Lagerzeitung Undser Lebn, 1946 © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Mayer & Rachel Abramowitz, 48780

Jüdische Beschneidungszeremonie (Brit Milah) in „Düppel-Center“ © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Mayer & Rachel Abramowitz, 58434

Kinder einer Vorschulklasse in „Düppel-Center“ © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Mayer & Rachel Abramowitz, 58444

Fußballspiel im DP-Lager „Düppel-Center“ © American Jewish Joint Distribution Committee Archives, NY_50747

Familien in einer Unterkunft des Joint in der Rykestraße, 1945 © American Jewish Joint Distribution Committee Archives, NY_07156

ORT-Diplom für Malka Gliklich über ihre Ausbildung zur Radiotelegrafin, 1946 © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Lucy Gliklich Breitbart, 04210

„Purim 1947“: Fotoalbum von Wolfgang (Dixi) Heim, Berlin, Kladow, Biberach, Köln, Marseille, Zürich, ca. 1946-1948 © Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 1999/217/6a, Schenkung von Wolfgang Heim

Flyer für das DP-Theater „Baderech“

Yeshayahu Zycer spielt im Schnee mit seinen Lehrer:innen, Margot und Leonhard Natkowitz, im DP camp „Düppel-Center“ © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Francoise Bielinski Sitzer, 38299

Programmheft für die Theatervorstellung „Alte und neue Zeiten“, ein jiddisches Stück, des „Baderech“-Theaters

Oberstufenschüler:innen des DP-Camps in Schlachtensee lernen in einem Klassenzimmer © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Francoise Bielinski Sitzer

„Es geht uns immer wieder darum, die Schatten von gestern zu überwinden. […] Wir brauchen künstlerische Selbstbetätigung, wir haben das Recht auf Individualismus: Jahre hindurch sollten wir als Masse sterben; nun ist die Zeit gekommen, da wir als Volk leben wollen! Unser kleines Theater am Rande Berlins, der Durchgangsstation auf dem Wege zu einem neuen Leben, ist der erste Schritt dazu.“

Ein Schauspieler der DP-Theatergruppe „Baderech“ in Der Weg – Zeitschrift für Fragen des Judentums, 5. September 1946

Aus Durchgangsstationen werden Städte

Ende 1946 verbot die US-amerikanische Militärregierung vorübergehend die Weiterreise. Die Geflüchteten saßen in Berlin fest. Da auch die Flucht nach Berlin zunehmend erschwert wurde, gab die Untergrundorganisation Brichah („Flucht“) die Route von Berlin nach Szczecin (Stettin) auf und es kamen kaum mehr Geflüchtete. Die DP-Lager entwickelten sich zu kleinen Städten mit Schulunterricht, beruflichen Ausbildungen und kulturellen, politischen, sportlichen und künstlerischen Angeboten.

Kunst spielte in den DP-Lagern eine große Rolle: In Literatur, Theater und Musik setzten sich die Menschen mit den traumatischen Erlebnissen der Shoah und der Gegenwart in Berlin auseinander. Die meisten Erzeugnisse wurden auf Jiddisch verfasst, einer Sprache, die als Trägerin von Erinnerung und Identität an Bedeutung gewann. In den ersten fünf Jahren nach Kriegsende wurden allein in der US-amerikanischen Besatzungszone 140 Zeitungen und Zeitschriften und etwa 30 Prosa- und Gedichtbände in jiddischer Sprache veröffentlicht.

ORT-Diplom für Malka Gliklich über ihre Ausbildung zur Radiotelegrafin, 1946 © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Lucy Gliklich Breitbart, 04210

Bildung

Kinder nahmen in der DP-Gemeinschaft einen hohen Stellenwert ein. Die Shoah ließ viele DPs ohne Familienmitglieder zurück. Nur wenige Kinder hatten die Konzentrationslager überlebt. Durch eine hohe Geburtenrate und die Ankunft von ganzen Familien, die in der Sowjetunion überlebt hatten, stieg die Zahl an jungen DPs nach 1945 rasch an. Unmittelbar wurden in den Lagern Kindergärten und Schulen eingerichtet. Die Hilfsorganisation ORT (Organization – Reconstruction – Training) bot praktische Berufsausbildungen für Erwachsene an, um auf ein Leben nach Deutschland vorzubereiten. Im Lager „Düppel-Center“ in Zehlendorf wurde eine Volksuniversität mit täglichen Vorlesungen eingerichtet.

 

 

 

Flyer für das DP-Theater „Baderech“

Kultur

Die ersten Aufführungen des jiddischsprachigen Theaters Baderech („Unterwegs“) fanden im Lumina-Kino in Zehlendorf statt. Die Stücke bekamen gute Kritiken in Berliner Zeitungen. Zudem gab es in Zehlendorf das Kino Herzl, das jiddische Filme zeigte und sich großer Beliebtheit erfreute. Es wurden Sportclubs gegründet, die lagerübergreifende Sportveranstaltungen organisierten.

„Unsere Kulturarbeit

Während wir vor dem Krieg eine einheitliche Gesellschaft gehabt haben, die aus Menschen bestand, die ein anarchales Leben geführt haben, haben wir jetzt eine verschiedenartige Gesellschaft. Wir haben Kinder, die mehr als Erwachsene durchgemacht haben, Kinder, die weit von Jiddischkeit gerissen wurden, Kinder, die verschiedene Sprachen sprechen, Erwachsene, die Ghettos und KZs durchgemacht haben, und Partisanen, Menschen, die sich maskiert und als Arier versteckt haben. Aber ungeachtet all dieser Schwierigkeiten ist es uns doch gelungen, eine kulturelle Arbeit im Lager zu organisieren und zu realisieren. Während die Lager in Bayern unter sich Kontakt haben, München sie führen und verschiedene Anweisungen geben kann, sind wir hier in Berlin allein und müssen alles selbstständig organisieren, aus eigener Kraft und wenigen Menschen führen wir die Arbeit aus.“

Undser Lebn, 15. Januar 1947

Jüdische Beschneidungszeremonie (Brit Milah) in „Düppel-Center“ © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Mayer & Rachel Abramowitz, 58434

Religion

Viele der vorwiegend osteuropäischen DPs waren religiöser als die eher säkularen jüdischen Deutschen. Religiöse Komitees in den DP-Lagern boten Beratung in religiösen Fragen an und führten religiöse Zeremonien und Krankenbesuche durch. In allen drei Lagern wurden Synagogen und koschere Küchen eingerichtet.

Politik

In den DP-Lagern gründete sich ein breites Spektrum politischer Parteien. Diese waren sich weitestgehend einig darin, dass ein jüdischer Staat geschaffen werden musste. Uneinig waren sie sich darin, wie genau dieser gegründet werden und wie er gestaltet werden sollte. Einige DPs, darunter auch ein großer Teil Frauen, schlossen sich bereits in Berlin der zionistischen paramilitärischen Untergrundbewegung Haganah („Verteidigung“) an. Diese kämpfte im britischen Mandatsgebiet Palästina für die Gründung eines jüdischen Staates.

Kinder lesen die Lagerzeitung Undser Lebn, 1946 © United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Mayer & Rachel Abramowitz, 48780

Presse

Im August 1946 erschien die erste Ausgabe der jiddischsprachigen Lagerzeitung Undser Lebn, die das zentrale Organ des Lagerlebens sein sollte. Oft humoristisch geschrieben, widmeten sich die Autoren Themen von sozialem, politischem und kulturellem Interesse. Die Zeitung kam in unregelmäßigen Abständen heraus und verzeichnete eine Auflage von bis zu 3.000 Stück. Zudem erschienen in den DP-Lagern zahlreiche jiddischsprachige Publikationen. Es wurden eigene jiddische Bibliotheken eingerichtet.

BeDerekh, HaNoder, ein bisschen merkwürdige Namen für Theater. Aber diese Namen sind kein Zufall. Die Schauspieler wollten mit den Namen genau ihr zeitweiliges Dasein unterstreichen und ihre eilige Arbeit begründen, weil es keinen Saal gibt, eine Bühne, Kostüme, Perücken und überhaupt Material fehlt. Es gibt keine Dramataurgen, keine Bücher, alles wird selber gemacht und selbst aufgebaut… Ich möchte dem Theater ‚HaNoder‘ einen großen, riesiggroßen Respekt aussprechen, das bewiesen hat, all diese Schwierigkeiten und Probleme zu bewältigen und am 30. September die Premiere von Sholem-Aleichems ‚Der große Gewinn‘  [Dos groyse gevins] aufzuführen und das sogar auf einer Bühne, mit Kostümen, mit Perücken und Musikbegleitung – Theater im vollen Sinne des Wortes. Und wie haben sie das gemacht? Sie haben den Text aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, mit Decken Ausstechformen zusammengeflickt, von Werkstätten und Ämtern die ganze Bühnenausstattung ausgeborgt, alles allein, mit der Unterstützung der Schauspieler. Gleichzeitig wurde einen ganzen Monat 4 bis 5 Stunden pro Tag geprobt. All das kann mit Arbeit erreicht werden.“

Undser Lebn, 22. November 1946

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