Ein Brief ins Blaue

In diesem Brief lässt sich die persönliche Hoffnung der Autorin Mascha Kaléko auf Besserung erkennen. Der Frühlingsanfang dient in diesem Werk als Symbol von etwas Neuen. Die „unendliche Traurigkeit“ mit der Hoffnung auf den Neuanfang befinden sich hier nebeneinander.

Ich schickte einen Brief hinaus in den Frühling an Irgendeinen, den es vielleicht gar nicht gibt. Das Papier, das ich mit meinen steilen Lateinbuchstaben bemale, ist kein Bütten. Und ich kann mich sogar an Zeiten erinnern, da ich meine Briefe an postalisch einwandfreie Adressaten zu richten pflegte.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Ich gehöre nicht zu jenen, die immer gleich ihre „Gefühle“ bei der Hand haben. Und doch: mit dem Strauss gelber Himmelschlüssel hat es angefangen. Ihr würdet mich auslachen, wenn ich euch einreden wollte, dass mich jener ganze Frühlingstag mitsamt seinem Sonnenschein, Himmelblau und sonstigem Zubehör kurzgesagt einen knappen Pfiff anging, und dass mir erst am späten Abend, als ich mich aus meinem Zimmer in den dämmerigen Schacht des Hofes neigte, der Frühling begegnete. Am Fenster stand ich, der Tag hatte sich aus dem Staube gemacht, und ein paar armselige Lichtsträhnen, Ueberbleibsel der fortgehenden Sonne-nicht der Rede wert-lagen unten verstreut umher. Ich weiss noch, dass ich gerade mein Frühjahrskopfweh hatte, ich steckte den Kopf weit ins Freie hinaus,-nicht etwa, dass mir, ausser an den paar Zügen Luft, noch etwa an „Abendstimmung“ oder sonstigen „Eindrücken“ gelegen war, nein, ich hatte die Tage vorher Eindrücke genug gehabt…

Ich stand allein in der abendlichen Stille meiner Stube und horchte in den Hof hinunter. Türkenknallen, Verhallen von Schritten. Fenster waren bereit aufgetan, Teller klapperten hinter Gardinen, mit denen der Wind spielte, es war Abendbrotzeit. Im Vorderhaus und Seitenflügel sassen nun brave Familien und gingen programmgemäss zu Tisch. Stühle rückten hin und her, Löffel klirrten, manchmal fiel ein halber Satz zum geöffneten Fenster hinaus. Nacht war es noch nicht, die Sonne war noch nicht ganz fort, und der Mond noch nicht ganz da, so eine Stunde war das; aber die Braven in ihren Stuben hatten schon das Elektrische angeknipst, ihre Ordnung wollten sie haben, sie liebten kein liederliches Halbdunkel… Der Abend war wie tausend andere, ein ganz gewöhnlicher Frühjahrsabend, ein Dutzendprodukt in der Tageszeit-Fabrik des lieben Gottes, und der hatte sicher gedacht, dass da unten irgendeinem Nichtsnutz gerade an diesem lächerlichen Exemplar von Abend aufgehen könnte, es sei Frühling geworden.

Die Tage vorher hatte ich gar nicht bemerkt, so hatte ich an ihnen vorbeigelebt. Wolkenloser Himmel, Wärme und Licht,- die Erfüllung meiner winterlichen Hungerphantasien, dies alles hatte ich gar nicht wahrgenommen. Aber nun, da ein solcher Tag zu Ende ging, jetzt, da das Gewicht hochgereckter Hinterhäuser und die Armseligkeit der paar Quadratmeter Hummel über den Dächern sich schwer auf mein Herz legte, nun wachte ich auf. Und alles kam wieder hervor, was ich während der letzten Wochen in die unterste Schublade meiner Seele hineingestopft hatte…

Ich weiss nicht mehr, ob die Vögel an jenem Abend vom Park herüberzwitscherten, es war wohl so, ich hörte sie nicht, aber als nun ein Kind begann zu singen, ein billiges kleines Gassenlied mit seinem rührend mageren Stimmchen, da kam unendliche Traurigkeit über mich. Ausgestossen war ich und verlassen… Das bohrte sich ein, als wollte es sich häuslich einrichten bei mir wie früher schon.

Nein, sagte ich zu mir,-ich war allein mit meinen nackten Wänden und Möbeln-nein! Sagte ich herausfordernd. Aber es war lächerlich, so hatte es immer angefangen. Es war also wieder einmal so weit. Die letzten Wochen krochen an mir vorüber, das vergangene Jahr, alles nutzlos. Was ich getan, hätte ich lassen, was ich gelassen, hätte ich tun sollen. Vorbei…

So meldete sich der Frühling bei mir an. „Frühlingsanfang!“ Trostlose Haltestelle auf der Fahrt ins Jahr…

Ein solcher Abend war das. Und man konnte ihn nicht einfach aus dem Kalender reissen, denn es gibt keine Tabletten gegen die Schmerzen in unserem Innern.

Heute kann es sogar vorkommen, dass ich vor lauter hellen Sonnenkringeln auf dem blauliniierten Schreibpapier und meiner alten Tapete vor Uebermut zu pfeifen anfange. Ich will nicht verschweigen, dass ich heute früh über den ersten Flieder auf einem fremden Balkon leise gelächelt habe, als wären gewisse Abende begraben, fern. Jenseits des Ufers, auf das mich dieser Tag gerettet hat. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass ich heute ein verwegenes Sommerkleid anziehe, nur so für mich.

-Wer weiss, ob mir nicht, wenn ich an diesem Abend an mein Fenster ginge, so ein Gedanke durch den Kopf schwirrte von Sommer, blauen Seen und Wanderrast unter blühenden Bäumen.

So ein Tag ist das, heute. Ich schicke einen Brief hinaus in die Welt an Irgendeinen, der vielleicht gar nicht an mich denkt. Aber ich, ich will ihn grüssen um seiner Abende willen, da er an geöffnetem Fenster vor traurigen Häuserschächten steht, um jenes ersten Flieders willen, der ihm auf fremden Balkonen blüht. Für ihn kritzle ich meine mageren Buchstaben auf das letzte Blatt jenes Schulheftes, das einst die Gedanken eines behüteten Kindes aufgenommen hat, eines Kindes, das nicht mehr glücklich, sondern erwachsen ist.

Ich schicke diesen Brief hinaus an jenen Einen, von dem ich noch immer nicht weiss, ob och ihn getroffen habe…

Mascha Kaléko (1907–1975) war eine deutsch-jüdische Dichterin, die 1938 als Flüchtling aus Nazi-Deutschland in New York City ankam. Nach einem kurzen Wanderleben ließ sich die Familie Kaléko-Vinaver bis 1959 in der Minetta Street 1 im Greenwich Village nieder – einer winzigen, engen Straße am Rande der New York University. Sie und ihr Mann entschieden sich dem Sohn zuliebe für ein Leben im Village und nicht in einem typischen Einwandererviertel. In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

 

Mascha Kaléko, Ein Brief ins Blaue, erschienen im Aufbau, Freitag 27. April 1956, S. 19. In: Leo Baeck Institute, Internet Archive. https://archive.org/details/aufbau/ (01.04.2022).