Begegnung mit Helga Hagen: Leben in New York

Helga Hagen wurde in Berlin-Nikolassee im Jahr 1918 in eine bürgerliche, gänzlich assimilierte jüdische Oberschicht der wilhelminischen Ära geboren. Der Sechzehnjährigen Helga wird erst in der antisemitischen Pogromstimmung nach der Machtübernahme der Nazis bewusst, dass sie jüdischer Herkunft ist. 1934 muss sie das Gymnasium verlassen und wird von den Großeltern in eine Schule nach Belgien geschickt. 1937 kehrt sie zurück und betreut jüdische alte Menschen. Ihr Vater, wegen „Rassenschande“ verurteilt, wird 1942 ermordet. 1952 wandert sie in die Vereinigten Staaten aus und lebt in Manhattan, New York.

Helga Hagen erzählt in ihrem Gespräch mit dem Autor des Buchs „Die verheissene Stadt“ Thomas Hartwig über ihre Emotionen und die der vielen jüdischen Emigranten als Holocaust Überlebende  in New York.

Mann schaut auf Morris Park,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

Das war also das große Ereignis, das Leben fing da erst richtig an, also, hier in New York. Ich war so froh, aus Deutschland weg zu sein. Ich war so selig, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein Alptraum auf einem lag in Deutschland. Und was man da mit sich geschleppt hat an Grausamkeiten und Ängsten. 1952, New York war eine herrliche Stadt. Es war wunderbar. Man war noch jung, man hatte noch so allerhand vor sich, man hoffte noch, und ich fing hier sofort zu arbeiten. Ich hatte nicht einen einzigen Pfenning, als ich hier rüber kam. Ich arbeitete, ich fing erstmal an zu arbeiten bei einer Schweizer Uhrenfirma. Und da mein Englisch sehr, sehr schlecht war, fing ich in der Fabrik an.

[…] Es ging mir etwa so wie dem Reiter über den Bodensee. Ich war so froh, so erleichtert. Ich genoss jeden Tag, ich ging zu Ausstellungen mit meinem Sohn, wir liefen jeden Sonnabend, Sonntag überall hin und sahen uns alles an. Man machte neue Freunde, man wusste, dass die einen gern hatten, man vertraute ihnen. Die Menschen hier sind sehr offen, tolerant und liebenswürdig. Und dann fing es plötzlich an. Ich war schon Amerikanerin, amerikanische Staatsbürger. Und plötzlich kamen entsetzliche Ängste. Ich litt unter fürchterlichen Alpträumen. Ich traute mich überhaupt nicht mehr zu schlafen nachts. Jede Nacht kamen die Nazis, jede Nacht wurde ich verfolgt, jede Nacht ging alles wieder los. Ich dachte, ich würde wahnsinnig, ich könnte es nicht mehr aushalten und würde aus dem Fenster springen. Und da kam ich auf die Idee: jetzt fährst du nach Deutschland, zurück. Ganz egal, wie dir zumute ist. Du gehst hin – und du kommst wieder raus. Du merkst, dass du rauskommst, dass dir nichts passiert. Das hab ich gemacht. Ich hab Geld zusammengespart und bin nach Deutschland, nur zu diesem Zweck. Und es hat geholfen. Ich hab nie wieder Alpträume gehabt, nie wieder solche Ängste, solche irrationalen Ängste.

[…]

Hier in New York, was sich hier in New York an Elend abgespielt hat unter den Überlebenden der Konzentrationslager, davon macht man sich gar keinen Begriff. Die sind heute alle tot, sie haben alle kein langes Leben mehr gehabt. Aber das Elend, das sich hier abgespielt hat, diese Krankheiten, dieses Dahingekreuche, diese Hilfsorganisationen, die wir hier hatten, um diese Menschen noch am Leben zu erhalten, um ihnen zu helfen, um vielleicht einen Fenster zu bekommen, damit sie irgendeine Ablenkung hatten. Dieses ganze Elend, das sich hier abspielte und dann diese Gleichgültigkeit, dieser infantile Materialismus. Ich bin richtig hysterisch geworden. Ich hab losgeheult, ich hätte, ich weiß nicht, was ich hätte machen können. Es war entsetzlich, ein solch grausamer Widerspruch, dass die Mörder ein solches Leben leben konnten, während hier in New York die Menschen in solchem Elend gelitten haben, in solch grauenhafter Weise zugrunde gingen. Das anzusehen, das mitzuerleben, das war wirklich eines der fürchterlichsten Erlebnisse.

 

 

Helga Hagen 1918 geboren in Berlin-Nikolassee. Der Vater, Privatbankier, stammt aus der bürgerlichen, gänzlich assimilierten jüdischen Oberschicht der wilhelminischen Ära. Der Sechzehnjährigen Helga wird es in der antisemitischen Pogromstimmung nach der Machtübernahme der Nazis bewusst, dass sie jüdischer Herkunft ist. 1934 muss sie das Gymnasium verlassen und wird von den Großeltern in eine Schule nach Belgien geschickt. 1937 kehrt sie zurück und betreut jüdische alte Menschen. Ihr Vater, wegen „Rassenschande“ verurteilt, wird 1942 ermordet. Sie bringt 1943 in einer Kleinstadt im Schwarzwald ihren Sohn zur Welt; der drohenden Verhaftung und Deportation kann sie entkommen und lebt bis Kriegsende illegal in Hamburg. 1952 wandert sie in die Vereinigten Staaten aus und lebt in Manhattan, New York.

Thomas Hartwig- Autor des Buches „Die verheißene Stadt: Deutsch-jüdische Emigranten in New York. Gespräche, Eindrücke und Bilder“ hat sich mit Helga Hagen in der 86. Straße West, in der Nähe des Central Parks für das Interview-Gespräch getroffen. So hat er sie beschrieben: „Mich beeindruckt die Offenheit, ja – Radikalität, mit der sie erzählt. Ihre Biographie ist, abgesehen von der sozialen Exklusivität ihrer upper-class Kindheit, in vieler Hinsicht typisch für eine ganze Generation deutscher Juden“.

 

 

Thomas Hartwig, Achim Roscher, 1986: Verheißene Stadt: Deutsch-jüdische Emigranten in New York. Gespräche, Eindrücke und Bilder. Berlin: Das Arsenal. S.25-26.