Brief Martin Wagner aus Istanbul an Ernst Jäckh in London, 1938

In diesem Brief bittet Martin Wagner – ehemaliger Stadtbaurat von Berlin, der ab 1935 ins türkische Exil ging und als städtebaulicher Berater für die Stadt Istanbul arbeitete – den in London lebenden Ernst Jäckh, bekannt für sein Engagement für eine liberale parlamentarische Demokratie in Deutschland, um Hilfe in der Arbeitsuche für seinen jüdischen Freund Prof. Merzbacher, dem in Istanbul gekündigt wurde. Da er nicht nach Deutschland zurückkehren kann, versucht Martin Wagner über das Netzwerk von Ernst Jäckh, ihm eine neue Arbeitsstelle in London zu verschaffen.

Prof. Dr. Ing. Martin Wagner, Stadtbaurat a.D.
Zur Zeit: Istanbul – Moda, Moda-Köskü

am 20 Mai 1938.

 

Herrn Prof. Ernst Jäckh,
20 Stockleigh Hall, Albert Road.
Regent Park.
N. W. 8. London.

 

Mein lieber Herr Jäckh,

Allah wird es Ihnen nie vergessen, dass Sie Ihrem „alten Kämpfer“ und „Stambullen“ – wie mich Poelzig immer nannte, wenn er mich in Istanbul besuchte,– auf seinen letzten Brief noch nicht geantwortet haben. Haben Sie denn Ihre 1000 und 13 Nächte in der Türkei so ganz vergessen? Oder sind Sie krank? Oder was fehlt dem Glückskind sonst in dieser so „herrlichen“ Zeit, in der ihm immer die weissen (und den anderen immer die schwarzen) Lose zufallen?

In der Zeit meines letzten Briefes an Sie hatte ich auch eins jener schwarzen Lose erhalten. Inzwischen aber hat sich Jupiter die Sache anders überlegt und mich mit einigen weissen Losen bedacht, über die ich Ihnen noch berichten werde, wenn die Ziehung vorüber ist. Ich habe aber das Gefühl nicht vergessen, wenn man einen Kündigungsbrief in der Hand hält. Und weil es sich in diesem Falle nicht um mich, sondern um einen wertvollen Menschen mit seiner ganzen Familie handelt, darum übergehe ich Ihr Schweigen und trage Ihnen heute noch einmal eine dringende Bitte vor:

Es handelt sich um den mir hier gut bekannt gewordenen Prof. Merzbacher, der nach einem Vertrage mit dem Roten Halbmond die hiesige Gasmasken Fabrik organisiert und geleitet hat und nun nach dreijähriger Arbeit zum Herbst seine Kündigung erhielt. Die Gründe für diese Kündigung sind – so scheint mir – ausschließlich darin zu suchen, dass ein neuernannter Türke den Glauben von sich hat, die Fabrik nun ohne einen „Fremden“ weiterleiten zu können. Einen solchen Glauben trifft man ja hier auf Schritt und Tritt an. Aber von diesem Glauben kann weder die Türkei, am allerwenigsten aber Prof. Merzbacher weiter leben, dem – als Jude – natürlich eine Rückkehr nach Deutschland ganz unmöglich ist.

Die Bitte, die ich nun an Sie richte ist die, ob Sie diesem, innerlich wie äusserlich so vornehmen Menschen nicht zu einer neuen Arbeit in England oder in Amerika verhelfen können. Nach meinem, vielleicht ganz unmassgeblichem, Urteil sollte Herr Prof. Merzbacher an einer Universität erfolgreich arbeiten können, als an einer Fabrik. Aber seine grossen Erfahrungen auf dem Gebiet der Gasmasken-Technik und der Gasmasken-Chemie würden ihm sicher auch die Möglichkeit geben, in diesem von Gott gewollten Lebenszweig seinen Mann zu stehen. Und Gott will doch nun einmal, dass die ganze Welt, und also auch die englische und amerikanische, hinter Masken leben soll. Sehen Sie nun da eine Möglichkeit, diesen Willen Gottes auch in dem Schicksal des Herrn Prof. Merzbacher weiter zu führen? Der beigefügte Lebenslauf gibt Ihnen über die Person und seinen beruflichen Werdegang wohl hinreichende Auskunft. Herr Prof. Merzbacher wäre Ihnen schon zu grossem Dank verpflichtet, wenn Sie ihm einen Fingerzeig für ein neues und fruchtbares Arbeitsfeld geben könnten.

Überlegen Sie sich doch bitte diesen Fall in der nächsten schlaflosen Bürostunde und Allah gebe, dass er Ihnen das Blitzlicht schenke, mit dem Sie den Platz ausfindig machen können, dem ein wertvoller Mensch in ehrlicher, würdiger und aufrechter Haltung ausfüllen kann.

Mit den herzlichsten Grüssen, auch an Ihre Frau

bin ich Ihr

Martin Wagner

 

Ein enger Vertrauter Atatürks 11Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.  setzte sich vehement für die Anwerbung von ausländischer Architekten ein. Es kamen erfahrene Architekten und Künstler in die Türkei, darunter 1935 der ehemaligen Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner (1885-1957). Er erhielt eine Berufung zum städtebaulichen Berater der Stadt Istanbul. Dort erarbeitete er eine Reihe städtebaulicher Gutachten und einen General-Entwicklungsplan für die Stadt. Durch seine Vermittlung wurde ein Jahr später der berühmte Architekt Bruno Taut aus Japan in die Türkei an die Akademie der Schönen Künste in Istanbul verpflichtet.

Martin Wagner unterhielt während seiner Zeit des Exils in Istanbul mit vielen Anhänger:innen und Vertreter:innen des Neuen Bauens, wie Ernst Reuter (Ankara), Walter Gropius (erst  London, später USA) Ernst May (Tanganjika in Ostafrika emigriert), Martin Mächler, Hans Scharoun (Berlin) und eben auch Bruno Taut (Istanbul) (Brief-)Kontakte.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit der Weimarer Republik (1910er bis 1930er Jahre) entwickelte sich das Neue Bauen als bedeutende Strömung der deutschen Architektur und des Städtebaus, die konservativen und traditionalistischen Strömungen gegenüberstand. Das Neue Bauen zeichnete sich durch einen rationalistischen Ansatz und sozialpolitische Zielsetzungen aus: Durch einen einfachen, aber dennoch ästhetischen Baustil sollten für möglichst viele Menschen Wohnraum geschaffen werden.

„Die Architekten des Neuen Bauens eint über alle Grenzen der Länder hinaus ein warm empfundenes Herz für alle Menschen in Not, sie sind ohne soziales Empfinden undenkbar, ja man kann geradezu sagen, daß diese Schar die sozialen Momente bewußt in den Vordergrund des Neuen Bauens stellt.“ (Ernst May in: Das Neue Frankfurt 1928)

Im Nationalsozialismus wurde das Neue Bauen unterdrückt und stattdessen traditionalistische „heimatschützende“ Baustile durchgesetzt.

In diesem Brief an den in London lebenden Ernst Jäckh, bekannt für sein Engagement für eine liberale parlamentarische Demokratie in Deutschland, bittet Wagner um Hilfe in der Arbeitsuche für seinen jüdischen Freund Prof. Merzbacher, dem in Istanbul gekündigt wurde. Da er nicht nach Deutschland zurückkehren kann, versucht Martin Wagner über das Netzwerk von Ernst Jäckh, ihm eine neue Arbeitsstelle in London zu verschaffen. Dabei spielt er bereits – im Rückblick zynisch – auf die Notwendigkeit von Gasmasken im aus seiner Sicht herannahenden Krieg an, in deren Produktion Merzbacher bereits berufliche Erfahrungen gesammelt hatte. Außerdem spiegelt sich in Wagners Brief dessen ambivalente Haltung zu seiner türkischen Umgebung wider: Während er einerseits halbironisch auf diese referiert – zum Beispiel indem er in seinen Floskeln „Gott“ durch „Allah“ ersetzt – und sein Schicksal dort als glückliches bezeichnet, klingt andererseits eine für die deutschen emigrierten Intellektuellen nicht untypische Überheblichkeit gegenüber der neuen Umgebung durch.

    Fußnoten

  • 1Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.

Abschrift Brief Martin Wagner an Ernst Jäckh, London 1938, Landesarchiv Berlin, Findbücher Nr. 168 und Nr. 172.