Die Wege von Rudolf Nissen nach Istanbul

Auszüge aus der Biografie des erfolgreichen Charité-Chirurgen Rudolf Nissen beschreiben die antisemitische Stimmung im Jahr 1933 und den sehr schnellen Entschluss, Deutschland zu verlassen. Er erzählt über seine Auswanderungspläne nach den USA, aus welchen Beweggründen er sich schlussendlich für Istanbul entschied und auf welchen Umwegen er dorthin gelangte.

Rudolph Nissen © Bildarchiv Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Berlin

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Inzwischen hatte die Schnelligkeit, mit der ich die Konsequenzen aus der antisemitischen Personalpolitik der Regierung gezogen habe, zu allerhand Reaktionen geführt, die damals — sehr im Gegensatz zu den späteren Jahren — noch als etwas Verständliches erschienen. Die Zahl der Besucher, die nach dem Gute Königsberg [Landsitz des Schwiegervaters in der Prignitz] kamen und nur zum Teil ehrlich überzeugt, zum Teil um ihre Sympathie zu zeigen, die Übereiltheit und Grundlosigkeit meines Entschlusses zu beweisen suchten, war groß.

Schürmann [ein Kollege an der Charité], den ich im Laufe der Zeit sehr liebgewonnen hatte, war so eindringlich, daß es richtig schmerzhaft war, ihm eine negative Antwort zu geben. Er war tief unglücklich über die politische Entwicklung. Kurz darauf nahm er einen längeren Urlaub, um an einem skandinavischen Institut zu arbeiten. Sein dezidierter politischer Antagonismus machte ihn bald verdächtig. Er fand, um Verfolgungen durch die Partei zu entgehen, einen damals oft gewählten Ausweg: den Eintritt ins aktive Heer. Nach Deutschland kehrte er erst zurück, als die Formalitäten erfüllt waren. Die Uniform — er wurde Professor der Pathologie an der wieder eröffneten Pepiniére (Militärärztliche Akademie) — schützte ihn vor dem Zugriff der Nazis. Während des Zweiten Weltkrieges ist er im russischen Feldzug gefallen, menschlich und wissenschaftlich ein gleich schwerer Verlust.[…]

Als ich auf dem amerikanischen Konsulat vorsprach, um ein Visum zu erhalten, wurde ich in das Zimmer des Konsuls verwiesen. Ich hatte sein Kind einige Monate zuvor behandelt. Er war verzweifelt über den Ausbruch des „barbarischen Zeitalters“ in Deutschland, wie er sich ausdrückte, und riet mir dringend, Einwanderungsvisen zu beantragen. Die deutsche Immigrationsquote war noch nicht gefüllt; in einigen Tagen wären die Formalitäten, die später viele Wochen oder Monate in Anspruch nahmen, erledigt gewesen. Die Begründung für seinen Vorschlag war so, daß ich ihn [Seite 189] heute noch bewundern muß ob der Voraussicht, mit der er die Entwicklung der Dinge in Deutschland und Europa der nächsten beurteilte: die Kriegsrüstungen, Judenverfolgungen, die nationalistisch Durchseuchung der Bevölkerung und – das unvermeidliche kriegerische Ende. […]

Als wir — an einem Sonntag — die deutsche Grenze hinter uns ließen, hatte ich das Gefühl eines entscheidenden Schlußstriches. Die Genugtuung darüber, daß ich die widerlichen Hakenkreuzfahnen nicht mehr zu sehen brauchte, überwog alle Bedenken über die Unsicherheit der Zukunft.

Wir blieben einige Zeit in Zürich, trafen dort L. Lichtwitz, der sich zur Übersiedlung nach New York vorbereitete, und S. Thannhauser, der in Freiburg auszuharren beschlossen hatte. In Siena besuchten wir G. A. Chiurco, der eine Zeitlang an der Berliner Klinik arbeitete. […]

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Die weitere Reise [aus Rom gestartet]  führte uns über Viareggio, die Riviera, Avignon nach Lyon und Paris, wo ich in der Begleitung von Marc Iselin einige chirurgische Kliniken besuchte. […] Unser Plan ging dahin, nach England überzusetzen und in Southampton das Schiff nach Amerika zu erreichen. Es kam aber anders. Die Abreise von Paris war für den Morgen des 14. Juli festgesetzt. Die Nacht vor der féte nationale brachten wir in dem vergnügten Treiben auf den Straßen von Paris zu, kamen erst im Morgengrauen nach Haus und verschliefen den Abreisetermin. Um 9 Uhr wurden wir durch ein Telegramm meiner Mutter geweckt, das mir aufgab, eine Zürcher Nummer anzurufen. Als ich Zürich erreicht hatte, meldete sich am anderen Ende Ph. Schwartz, ein Pathologe aus Frankfurt, der mich bat, sofort nach Zürich zu kommen, um wegen der Übernahme des Istanbuler Lehrstuhles der Chirurgie zu verhandeln. Wir entschlossen uns ohne Zögern nach der Schweiz zu fahren; im Grunde meines Herzens war ich froh, das unbekannte und unheimliche Amerika aus den Zukunftsplänen streichen zu können.

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Mit leichter Verzögerung durch einen Autounfall traf ich am nächsten Vormittag in Zürich ein, fand eine größere Zahl von deutschen Professoren, die sich in der gleichen Lage befanden, in der Wohnung von Schwartz‘ Schwiegervater Tschulok vor und erhielt erstaunliche Aufklärungen über den Zweck der Versammlung. Schwartz hatte in Zürich eine „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gegründet und von wohlhabenden Schweizer Gelehrten und Bankiers die Mittel zur Eröffnung eines Büros erhalten. An Schwartz hatte sich Malche aus Genf gewandt, der von der türkischen Regierung eingeladen war, einen Plan zur Reorganisation der Istanbuler Universität auszuarbeiten. Ursprünglich war es die Absicht des türkischen Präsidenten Atatürk, 11Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates. die Erneuerung des Lehrkörpers innerhalb von fünf bis zehn Jahren durchzuführen. Die Hitlersche Universitätspolitik veranlaßte ihn, daraus sofort Nutzen zu ziehen. Ungefähr 40 Ordinariate aller Fakultäten sollte – nach Malches Vorschlag mit entlassenen deutschen Professoren besetzt werden. Die Gründung einer zweiten Universität in Ankara war ein anderer Punkt im Regierungsprogramm. Schwartz gab sich Mühe, die Reifung dieses Planes zu beschleunigen, wenigstens soweit die medizinische Fakultät in Frage stand. […] Am 1. August [1933] kam ich in Istanbul an in glühender Hitze, die einen Vorgeschmack der kommenden Sommer gab.

    Fußnoten

  • 1Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.

Rudolf Nissen (1896-1981), Chirurg und Dozent an der Charité in Berlin, wurde nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahr 1933 sofort klar, dass er so schnell wie möglich das Land wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen musste. Mit Unterstützung der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ vom österreichischen Mediziner Philipp Schwartz (1894-1974) kam er 1933 an die Universität Istanbul und wurde Direktor der ersten chirurgischen Abteilung des Cerrahpaşa-Krankenhauses.

Obwohl ihm die türkische Regierung bei der Vertragsverlängerung entgegengekommen war, ging Nissen 1939 nach Beginn des Zweiten Weltkrieges mit Genehmigung des türkischen Kultusministeriums ins Exil in die USA. Ein chronisches Lungenleiden hatte sich im Exil verschlimmert und er blieb deshalb länger als ursprünglich geplant in den USA. Der von ihm noch zu seiner Zeit im Cerrahpaşa geplante Bau einer chirurgischen Klinik in Istanbul wurde seinen Vorstellungen gemäß 1943 abgeschlossen.

Auszug aus dem Kapitel: Von Berlin zum Bosporus, in: Rudolf Nissen, 1969: Helle Blätter – dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, pp. 188-194.