Edith Hillinger über ihre Kindheit in Istanbul und wie diese ihre Kunst prägte

Edith Hillinger, geboren in Berlin 1933, floh mit ihren Eltern 1937 aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins Exil in Istanbul. Ihr Vater Franz Hillinger arbeitete in der Türkei als Architekt, anfangs gemeinsam mit Bruno Taut. Als sie 16 Jahre alt war, im Jahr 1949, zog Edith gemeinsam mit ihrer Mutter weiter nach New York City. Seither lebt und arbeitet sie in den USA als Künstlerin. Ihre Kunst ist auch von den Eindrücken ihrer Kindheit und Jugend in Istanbul geprägt. In diesem Interview spricht sie darüber, wie sie als Kind die farbenfrohe Atmosphäre Istanbuls und die bedrückende Last des Exils in ihrer Familie wahrnahm. Sie erklärt auch, wie Natur zu einer Konstante in ihrem Leben und ihrer Kunst wurde.

Ausschnitt aus dem Interview „Edith Hillinger: Building a Life, San Francisco, June 2006“, geführt von Richard Whittaker

RW:  You must speak Turkish.

EH:  I did speak fluent Turkish, but it’s not really with me anymore.

RW:  How do you think your childhood in Turkey has affected you.

EH:  Well, I’ve thought about it. I still get very upset when I view programs about the Nazi era, the killings. My father’s brother died in Auschwitz, so it’s a very upsetting thing. Yet I’m grateful that I didn’t grow up in Germany. The gift of that whole trauma is that I went to a country that for my artistic development was much more interesting. I never see myself wanting to have had the middle class German childhood. Strangely, I much prefer my refugee childhood. But my brother went back to live in Germany in the sixties! That’s where he lives. He’s a professor there. It’s this western, homogenized neat, orderly society.

RW:  I see, the German model.

EH:  That model seems gray and uniform, to me. Istanbul is a wild bazaar, a wild chaos of color, languages, food, everything mixing! It was like an early version of New York. It was full of life and full of color. My grandmother, on the outskirts of Berlin, had one or two oriental poppies in her garden, but when we got to Istanbul, there were fields and fields of red poppies as far as the eye could see! It was a whole other kind of thing. That’s what I think I was really happy with.

RW:  All that life.

EH:  The color, the life, the variety, everything! It’s strange to say, but because of the war, I landed in a place that I really loved. […]

RW:  I remember you telling me about time you spent as a very young child in your grandmother’s garden in Germany.

EH:  I associate my love of nature and of plants with my grandmother who was wonderful at growing everything. My parents really didn’t have much interest in plants or animals, like I have. They were very much „city“ people. I don’t think they even had a philodendron [laughs].

My grandmother and grandfather had a very small family farm on the outskirts of Berlin. […] So I often was sitting next to my grandmother as she was tending the animals and the plants and the flowers. She had poppies in her garden, too—and then getting to Turkey and seeing these familiar plants, seeing that plants travel just like people do. Poppies travel all over the world. Many of our plants are from China. They’re migrants, too. I think that was a source of comfort for me. Everything else was unfamiliar, the people, the language, the customs, but plants were familiar, in some way. I remember sitting under a pomegranate tree just when the fruit would fall and burst open, just studying the way the seeds inside looked.

RW:  What was that like, looking at those pomegranates?

EH:  I think it was a non-threatening relationship that took me out of myself. The family relationships, and the relationships with others, were always fraught with various problems. And the war was very difficult on my parents. My mother was very attached to her family, so she felt cut-off. My father, the more gregarious one, was quite nervous about not being able to save his brother, and the loss of his family, too. And having to flee a second time, already. So there was all this unspoken stuff. I don’t know what it would have been like to have had a family life that wasn’t overlaid with all these sorrows that the adults had.

RW:  Are there any other experiences you would include, and what do you think of these experiences, that they persist and are still present?

EH:  What comes to mind is that these experiences are beyond the stories we tell others about ourselves, and therefore, they’re more true, in a way. The stories we tell others sort of become set in concrete. They reflect the way we want others to see us. Those early experiences go beyond those more superficial stories.

RW:  Do you remember being in gardens in Turkey?

EH:  It wasn’t so much gardens, but the poppies grew wild in the fields. My parents took us on walks over the hills on both sides of the Bosporus every weekend, and we’d see fields of flowers. They’d just be there in the summertime, although there were little gardens of wisteria and things like that, too.[…]

RW:  Getting back to history here, was your father influenced by Bruno Taut’s Japanese collections? And did that Japanese influence come into your home? […]

EH:  Now you were asking did a Japanese influence come in? Yes. Soon after we came to Turkey, Bruno Taut died. In his will, he left a portion of his Japanese collection to my father. That included a scroll and that’s why I paint the narrow paintings, as you see [pointing]. It included a case full of fans and toys that I played with, and that I still have. I’ve always been interested in Japanese culture and now Japanese gardens, as well. That came from that connection, I think.

 

Ausschnitt aus dem Interview „Edith Hillinger: Building a Life, San Francisco, Juni 2006“, geführt von Richard Whittaker:

RW: Sie müssen Türkisch sprechen.

EH: Ich habe fließend Türkisch gesprochen, aber es ist nicht mehr wirklich bei mir.

RW: Was glauben Sie, wie sich Ihre Kindheit in der Türkei auf Sie ausgewirkt hat?

EH: Nun, ich habe darüber nachgedacht. Ich bin immer noch sehr aufgewühlt, wenn ich Sendungen über die Nazizeit und die Morde sehe. Der Bruder meines Vaters ist in Auschwitz gestorben, das ist also eine sehr erschütternde Sache. Dennoch bin ich dankbar, dass ich nicht in Deutschland aufgewachsen bin. Das Geschenk dieses ganzen Traumas ist, dass ich in ein Land gegangen bin, das für meine künstlerische Entwicklung viel interessanter war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals eine deutsche Mittelklasse-Kindheit gehabt haben will. Seltsamerweise ist mir meine Flüchtlingskindheit viel lieber. Aber mein Bruder ging in den sechziger Jahren zurück nach Deutschland! Dort lebt er auch. Er ist dort ein Professor. Es ist diese westliche, homogenisierte, saubere, geordnete Gesellschaft.

RW: Ich verstehe, das deutsche Modell.

EH: Dieses Modell erscheint mir grau und uniform. Istanbul ist ein wilder Basar, ein wildes Chaos aus Farben, Sprachen, Essen, alles vermischt sich! Es war wie eine frühe Version von New York. Es war voller Leben und voller Farben. Meine Großmutter am Rande Berlins hatte ein oder zwei orientalische Mohnblumen in ihrem Garten, aber als wir nach Istanbul kamen, gab es Felder und Felder mit rotem Mohn, so weit das Auge reichte! Das war eine ganz andere Sache. Ich glaube, damit war ich wirklich glücklich.

RW: All das Leben.

EH: Die Farben, das Leben, die Vielfalt, alles! Es ist seltsam zu sagen, aber wegen des Krieges bin ich an einem Ort gelandet, den ich wirklich geliebt habe. […]

RW: Ich erinnere mich, dass Sie mir von der Zeit erzählten, die Sie als kleines Kind im Garten Ihrer Großmutter in Deutschland verbrachten.

EH: Ich verbinde meine Liebe zur Natur und zu Pflanzen mit meiner Großmutter, die alles wunderbar anbauen konnte. Meine Eltern haben sich nicht so sehr für Pflanzen und Tiere interessiert, wie ich es getan habe. Sie waren eher „Stadtmenschen“. Ich glaube, sie hatten nicht einmal einen Philodendron [lacht].

Meine Großmutter und mein Großvater hatten einen sehr kleinen Familienbauernhof am Rande von Berlin. […] Ich saß also oft neben meiner Großmutter, während sie sich um die Tiere und die Pflanzen und die Blumen kümmerte. Sie hatte auch Mohnblumen in ihrem Garten – und dann kam ich in die Türkei und sah diese vertrauten Pflanzen, sah, dass Pflanzen genauso reisen wie Menschen. Mohnblumen reisen durch die ganze Welt. Viele unserer Pflanzen stammen aus China. Auch sie sind Migranten. Ich glaube, das war eine Quelle des Trostes für mich. Alles andere war mir fremd, die Menschen, die Sprache, die Gebräuche, aber die Pflanzen waren mir auf eine gewisse Weise vertraut. Ich erinnere mich daran, wie ich unter einem Granatapfelbaum saß, wenn die Früchte fielen und aufplatzten, und wie die Kerne darin aussahen.

RW: Was war das für ein Gefühl, diese Granatäpfel zu betrachten?

EH: Ich glaube, es war eine nicht bedrohliche Beziehung, die mich aus mir selbst herausholte. Die familiären Beziehungen und die Beziehungen zu anderen waren immer mit verschiedenen Problemen behaftet. Und der Krieg war für meine Eltern sehr schwierig. Meine Mutter hing sehr an ihrer Familie, so dass sie sich abgeschnitten fühlte. Mein Vater, der geselligere von beiden, war ziemlich nervös, weil er seinen Bruder nicht retten konnte und auch seine Familie verloren hatte. Und dass er bereits ein zweites Mal fliehen musste. Es gab also all diese unausgesprochenen Dinge. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, ein Familienleben zu haben, das nicht von all den Sorgen der Erwachsenen überlagert gewesen wäre.

RW: Gibt es noch andere Erfahrungen, die Sie einbeziehen würden, und was denken Sie über diese Erfahrungen, dass sie fortbestehen und immer noch präsent sind?

EH: Mir kommt in den Sinn, dass diese Erfahrungen jenseits der Geschichten liegen, die wir anderen über uns erzählen, und deshalb sind sie in gewisser Weise wahrer. Die Geschichten, die wir anderen erzählen, werden gewissermaßen festgeschrieben. Sie spiegeln die Art und Weise wider, wie wir von anderen gesehen werden wollen. Diese frühen Erfahrungen gehen über diese eher oberflächlichen Geschichten hinaus.

RW: Erinnern Sie sich an Ihre Zeit in den Gärten in der Türkei?

EH: Es waren nicht so sehr Gärten, sondern die Mohnblumen wuchsen wild auf den Feldern. Meine Eltern nahmen uns jedes Wochenende mit auf Wanderungen über die Hügel auf beiden Seiten des Bosporus, und wir sahen Felder voller Blumen. Sie waren nur im Sommer da, obwohl es auch kleine Gärten mit Glyzinien und ähnlichem gab.[…]

RW: Um auf die Geschichte zurückzukommen, wurde Ihr Vater von Bruno Tauts japanischen Sammlungen beeinflusst? Und kam dieser japanische Einfluss auch in Ihr Haus? […]

EH: Sie haben gefragt, ob es einen japanischen Einfluss gab? Ja. Kurz nachdem wir in die Türkei kamen, starb Bruno Taut. In seinem Testament hinterließ er meinem Vater einen Teil seiner japanischen Sammlung. Dazu gehörte eine Schriftrolle, und deshalb male ich die schmalen Bilder, wie Sie sehen [zeigt]. Dazu gehörte auch eine Kiste voller Fächer und Spielzeuge, mit denen ich gespielt habe und die ich immer noch habe. Ich habe mich schon immer für die japanische Kultur und jetzt auch für japanische Gärten interessiert. Ich glaube, das ist aus dieser Verbindung entstanden.

Edith Hillinger, geboren in Berlin 1933, floh mit ihren Eltern 1937 aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins Exil in Istanbul. Ihr Vater Franz Hillinger war bereits nach dem Ersten Weltkrieg aus Ungarn nach Deutschland geflohen, nachdem ihm als Juden dort das Studium verwehrt wurde. In der  Türkei arbeitete er gemeinsam mit seinem Mentor Bruno Taut, der bereits 1936 dorthin gekommen war und dem dort wichtige Positionen zur Reformierung der türkischen Architektur übertragen wurden. Angesichts der wenigen Fluchtmöglichkeiten bezeichnet Edith Hillinger das Arbeitsangebot als Lebensrettung.

Als sie 16 Jahre alt war, zog Edith gemeinsam mit ihrer Mutter weiter nach New York City. Seither lebt und arbeitet sie in den USA als Künstlerin. Ihre Kunst ist auch von den Eindrücken ihrer Kindheit und Jugend in Istanbul geprägt.

In diesem Interviewabschnitt spricht sie darüber, wie sie als Kind die farbenfrohe Atmosphäre Istanbuls und die bedrückende Last des Exils in ihrer Familie wahrnahm. Sie erklärt auch, wie Natur zu einer Konstante in ihrem Leben und ihrer Kunst wurde.

Ausschnitte aus einem Interview geführt von Richard Whittaker am 24. Juni 2006, ursprünglich erschienen in Works & Conversations.

Wir danken Edith Hillinger für die freundliche Genehmigung, die Auszüge von ihrer Webseite nutzen zu dürfen: https://edithhillinger.com/interview

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor Kontor.