Fritz Neumark über sein mehrfaches Glück in Istanbul

Der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark (1900–1991) erzählt über seine erste Zeit im türkischen Exil, seine Erwartungen und sein Glück bereits im Herbst 1933, eine Anstellung als Professor an der Universität Istanbul bekommen zu haben.

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Fritz Neumark mit Studierenden in Istanbul © Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main

Mir scheint, daß die Emigration von Deutschen in die Türkei in den auf die Machtergreifung des Nationalsozialismus folgenden Jahren einen solchen, und zwar einen besonders glücklichen Ausnahmefall darstellt. Evident ist einerseits das Interesse deutscher Wissenschaftler und Künstler, einen ihrer bisherigen Tätigkeit, ihren Neigungen und Talenten adäquaten Arbeitsplatz wiederzufinden, nachdem sie den ihren in Deutschland auf unabsehbare Zeit hinaus verloren oder aus Gewissengründen freiwillig aufgegeben hatten; daß die Türkische Republik ihnen eine solche Möglichkeit bot, war für sie ein Segen. Andererseits wäre zweifellos der zumindest  teilweise auf die Tätigkeit deutschsprachiger Emigranten zurückzuführende beachtliche Aufschwung der türkischen Wissenschaft und gewisser Zweige des Kunstlebens nicht so rasch zu verwirklichen gewesen, wenn die durch Hitler geschaffenen besonderen Umstände es nicht der türkischen Regierung ermöglicht hätten, eine große Zahl angesehener Persönlichkeiten des deutschen wissenschaftlichen und kulturellen Lebens auf einen Schlag zu berufen. […]

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Als eine Art Clearingstelle fungierte in dieser Beziehung die auf Initiative von Professor Philipp Schwartz in Zürich 1933 ins Leben gerufene sogenannte „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“, die später nach London verlegt wurde. Diese Organisation stand die längste Zeit unter der vorzüglichen Leitung von Geheimrat Dr. Fritz Demuth. Sie war bei der Vermittlung geeigneter Kräfte – nicht nur solcher im Professorenrang, sondern etwa auch von Assistenten – außerordentlich nützlich und hilfreich und hat einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran gehabt, daß bereits bis zum Oktober 1933, also zur Eröffnung der neuen Istanbuler Universität, der türkischen Regierung so viele Professoren für die von Ausländern zu besetzenden Lehrstühle vorgeschlagen werden konnten, daß der Vertragsabschluß in kürzester Frist erfolgte und unmittelbar darauf die akademische Tätigkeit selbst von den Neuberufenen aufgenommen wurde. Es blieben nur relativ wenige Lücken, die später ausgefüllt wurden.[…]

[Seite 40] Ich selbst hatte in mehrfacher Hinsicht Glück. Zwar verlor ich schon frühzeitig meine Stellung, fand ja aber in vergleichsweise kurzer Zeit eine neue Betätigungsmöglichkeit und konnte noch in Ruhe und ohne allzuviele Schwierigkeiten meine Übersiedlung in das fremde Land vorbereiten und durchführen. Anderen, die erst später auswandern mußten bzw. konnten, wurden erhebliche Hemmnisse in den Weg gelegt, sofern sie nicht überhaupt im letzten Augenblick noch an der Emigration verhindert und in Konzentrationslager und Gasöfen transportiert wurden. In einer Hinsicht hatte ich es besonders leicht: Unter Devisenverkehrsbeschränkungen, die mir wie manchen anderen (vor allem älteren) Kollegen den Transfer eines Vermögens unmöglich gemacht hätten, litt ich um deswillen nicht, weil meine ganzen Ersparnisse von rund 5 000 Mark auf den Umzug und die persönlichen Reisekosten draufgingen. Als mir diese Beträge dann in der Türkei erstattet wurden, hatte ich den gleichen Betrag wieder in Händen, mit dem ich das „Dritte Reich“ verlassen hatte, und als ich Anfang der fünfziger Jahre dann heimkehrte, war meine Vermögensreserve infolge der zwischenzeitlichen starken Inflation in der Türkei etwa abermals gleich hoch wie zwei Jahrzehnte zuvor, freilich mit erheblich verringerter Kaufkraft und bei weit größeren familiären Belastungen.[…]

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Als ich, mit einem Schiff von Genua kommend, an einem frühen nebligen Herbstmorgen von Bord aus zum ersten Mal Istanbul in seiner einzigartigen Schönheit erblickte, ahnte ich nicht, daß die meisten von uns in dieser Stadt ein oder gar zwei Jahrzehnte verbringen würden. Denn gleich so vielen anderen, die in der Heimat zurückgeblieben und keine Nazis waren, glaubte auch ich, es handele sich bei dem Hitlerismus, zumal da ja auch starken konservative Kräfte im ersten Hitler-Kabinett vertreten waren, um einen Spuk, der schlimmstenfalls zwei, drei Jahre dauern würde. In dieser Fehleinschätzung fühlten wir uns bestärkt, als es 1934 zum Röhm-Putsch kam. Erst allmählich begannen wir die Lage realistischer einzuschätzen, und bei den meisten setzte sich die Überzeugung durch, daß das »Tausendjährige Reich«, wenn auch nicht gerade tausend, so doch zehn oder mehr Jahre Bestand haben könnte.

Fritz Neumark war ein rennomierter Finanzwissenschaftler und emigrierte aufgrund seiner jüdischen Herkunft noch 1933 in die Türkei. Er wurde Professor an der Universität Istanbul. Über diese Zeit berichtete er 1980 in seinem Buch Zuflucht am Bosporus, aus dem Ausschnitte zu bestimmten Themen des Exils hier aufgeführt werden. 1952 kehrte er als Professor an die Universität in Frankfurt am Main zurück.

Auszüge aus: Neumark, Fritz., 1980: Zuflucht am Bosporus, Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, S.37-40, Frankfurt am Main: Kneck.