Erich Auerbach über die Lage für Exilierten in der Türkei

Der deutsche Romanist und Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892–1957) beschreibt in diesem Brief vom 27. Mai 1938 an den Lateinisch- und Griechischlehrer Johannes Oeschger die Lage von ihm und anderer Exilierter in der Türkei.

Erich Auerbach an Johannes Oeschger, 27.5.1938

Von den vollkommensten Menschen unter ihnen, die hier gelandet sind, die 30 Professoren, überwiegend Naturforscher und Mediziner, sind in gutem Zustand und es geht ihnen von Tag zu Tag besser. […] Dazu kommen Einladungen aus der Schweiz, England und vor allem den USA, die die Türken stark beeinflusst haben. All dies steht jedoch auf einem sehr wackeligen Fundament und was passieren wird, hängt vor allem von der sich verschlechternden „Allgemeinen Lage“ ab. Dieses Land kann nur auf Basis eines starken Drucks standhalten, und Sie wissen, wie die Lage gerade hier im Südosten ist.

„Einige“ würden uns von hier vertreiben, wenn sie die Macht hätten. Zweifellos werden in einem solchen Fall auch hier Feinde nicht fehlen. Natürlich gibt es noch mehr von ihnen, aber ihre Stimmen kommen vorerst nicht zum Vorschein. Die Fundamentalisten misstrauen uns, weil wir Ausländer sind, die Faschisten misstrauen uns, weil wir im Exil sind, die Antifaschisten misstrauen uns, weil wir Deutsche sind. Es gibt auch noch Antisemitismus. […]

Was ist menschlich?

Es gibt hier niemanden, der beurteilen kann, was der Mensch kann oder was er ist. Höchstens die Vorkehrung für die Genauigkeit und Geläufigkeit der französischen Sprache können sie geben. Aber wie gesagt, es ist noch alles gut.

Erich Auerbach war deutscher Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie für unzählige andere wurde seine Laufbahn in Deutschland aufgrund des am 7. April 1933 ratifizierten, rassistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,“ das sowohl auf die Entfernung jüdischer Beamter als auch auf die Entlassung politisch Andersdenkender zielte, vorzeitig beendet. Da bei ihm das sogenannte Frontkämpferprivileg griff und er zusätzlich 1934 sogar einen “Treueid deutscher Beamter” auf Adolf Hitler schwor, verlor er seinen Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Marburg “erst” Ende 1935. 11Alle Angaben nach der Akte Erich Auerbach im Staatsarchiv Marburg Sign. 310, Acc 1978/15, No. 2261. zitiert in: Martin Vialon: Erich Auerbach. Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus. In: Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 52 (Bd. 1), 53 (Bd. 2)). Rathaus-Verlag, Marburg 1996, S. 394–395. Mehr als absehbar kontaktierte er jedoch schon im Verlauf des Jahres 1935 Kollegen in Italien, England und anderen Orten, um eine Anschlussstelle, selbst weit unter dem Rang des Professors, zu finden. Dank der Vermittlung der 1933 gegründeten konfessionsübergreifenden und antirassistischen Selbsthilfeorganisation “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland,” 22Johannes Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 71. die ab 1933 schwerpunktmäßig in die Türkei vermittelte, folgte er schließlich dem Ruf an die İstanbul Üniversitesi. Letztere war 1933 im Rahmen des kemalistischen Westernisierungs- und Modernisierungsprogramms gegründet worden und hatte u.a. die Anwerbung von Expert*innen zur Aufgabe. Auf diesem Wege emigrierten mehrere hundert deutsche Intellektuelle und ihre Familien den Auerbachs gleich in die Türkei, vor allem in die städtische Zentren Istanbul und Ankara, und wurden dort in die Arbeit der Universitäten und Ministerien eingebunden. Da Auerbachs Hoffnung auf eine Rückkehr auf den Lehrstuhl einer deutschen Universität unerfüllt blieb, emigrierte er 1947 von der Türkei in die USA, wo er seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte und sich einbürgern ließ. Er zählt noch heute zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches. Sein in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenes Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ gehört zu den grundlegenden Werken der deutschen Romanistik.

    Fußnoten

  • 1Alle Angaben nach der Akte Erich Auerbach im Staatsarchiv Marburg Sign. 310, Acc 1978/15, No. 2261. zitiert in: Martin Vialon: Erich Auerbach. Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus. In: Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 52 (Bd. 1), 53 (Bd. 2)). Rathaus-Verlag, Marburg 1996, S. 394–395.
  • 2Johannes Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 71.

Vialon, Martin, 2010: Yabanın Tuzlu Ekmeği, Erich Auerbach’tan Seçme Yazılar, Metis Yayınları. S. 305-306.

Übersetzung ins Deutsche und Englische: We Refugees Archiv/Minor Kontor.