Liselotte Dieckmann über Istanbul als Zufluchts- und Transitstadt

Istanbul war nach einem Kurzaufenthalt in Rom für Liselotte Dieckmann (1902–1994), eine Germanistin deutscher Herkunft, eine Stadt des Transits, in der sie von 1934 bis 1938 lebte, bevor sie in die USA auswanderte. Sie beschreibt die Berufungen deutscher, geflüchteter Akademiker*innen an die Istanbuler Universität ab 1933 – ihre Privilegien, aber auch Probleme. Für die meisten stellte Istanbul eine Zwischenstation dar, die mit Kriegsbeginn in eine Weiterreise nach Palästina oder in die USA endete.

Als Hitler im April 1933 die Juden zu vertreiben begann, gab es einen Staatsmann in Europa, der sofort begriff, daß der Schaden Deutschlands der Vorteil seines eigenen Landes werden könne: Kemal Atatürk, der zu jener Zeit fest in der Regierung saß, autoritäre Macht ausübte und dabei längst eingesehen hatte, daß sein „unterentwickeltes Land“ in vielen Lebensgebieten auf ausländische Hilfe angewiesen war. Seit Jahren gab es in der Türkei ausländische Ingenieure, Agrarexperten und Vertreter einzelner anderer Berufe. Aber die einzigen Universitäten, Ankara und Istanbul, hatten sich fast gänzlich dem Einfluß Europas entzogen. Ankara war überdies eine kleine Provinzialstadt, und die Universität, eine Gründung neuesten Datums, steckte in den ersten Anfängen. […]

Ob die Berufung von über siebzig deutschen Professoren an die beiden Universitäten Atatürks eigener Gedanke war oder vielleicht von einigen praktisch denkenden deutschen Emigranten inspiriert wurde, möge dahingestellt bleiben. Tatsache ist, daß bereits 1933 ein offizielles Bureau in Zürich existierte, an das jeder Akademiker sich wenden mußte, der auf Anstellung in der Türkei hoffte. Es wurde im wesentlichen von deutschen Emigranten geleitet, und obwohl wir selbst zu den Begünstigten gehörten und daher alle Ursache haben, dankbar zu sein, so weiß ich doch von häßlichen Fällen, von Bevorzugungen und Ungerechtigkeiten. Wir wollen die menschlichen Schwächen, die sich dort wie überall entwickelten, heute vergessen und uns an das Gute halten, was erreicht wurde. Berühmte Professoren erhielten ihre Berufung nach Istanbul, von Mises in Mathematik, Leo Spitzer und später Erich Auerbach in Romanistik, viele wohlbekannte Mediziner, Kunsthistoriker, Sozialwissenschaftler, Rechtsgelehrte usw. Auch für junge Menschen war Raum. Wir selbst lehrten Sprachen — jede Sprache, die wir nur irgend konnten — an der Universität Istanbul. Es war eine höchst gemischte Gruppe, keineswegs nur Juden, auch keineswegs bloß deutsche Akademiker, sondern Schweizer, Schweden, Franzosen.

Alle diese Menschen, natürlich mit Frauen und Kindern, kamen dort binnen kürzester Zeit, etwa von 1933 bis 1934, zusammen. Die Professoren waren gut bezahlt und wohnten in schönen, modernen Wohnungen. Die Stadt und die Natur sind wunderbar, und hätten die Emigranten in anderen Ländern ihre Existenz mit der unsrigen vergleichen können, so hätten sie uns zweifellos beneidet. Aber dazu war trotz des äußeren Anscheins kein Anlaß Vorhanden. Unser Leben war schwer und voll bitterer Mühsal.
Atatürk hatte zwar seine Regierung zu Rate gezogen, als er die deutschen Akademiker rief, aber keineswegs seine türkischen Professoren. Denen wurden die Ausländer eines Tages einfach vorgesetzt und sie reagierten dementsprechend. […] Vor dem Krieg ist es unter den Ausländern wohl nie zu Verhaftungen und Bestrafungen gekommen – nur die türkischen Professoren wurden rücksichtslos entlassen oder auf andere Weise gemaßregelt. Aber es herrschte eine Atmosphäre allseitigen Mißtrauens, die jede Zusammenarbeit nahezu unmöglich machte. […]

Und so verließen wir denn, einer nach dem anderen, ein Land, das so viel Schönes und Interessantes zu bieten hatte, aber das uns nicht absorbieren konnte. Die meisten gingen noch vor dem Krieg nach Amerika, wo die Anpassung nach der türkischen Erfahrung ein Kinderspiel war. Die alten Konstantinopolitaner wissen noch voneinander und wenn wir uns treffen, sprechen wir von dem orientalischen Zauber und dem modernen Schrecken, in dem wir gemeinsam lebten. Einige kamen nicht mehr fort und brachten den Krieg teils arbeitend, teils in Lagern, die sie mit deutschen Nazis teilen mußten und von denen sie mehr zu leiden hatten als von seiten der türkischen Aufseher. Und einige wenige haben all das überlebt und sind nun dort zu Hause, mit Türken bzw. Türkinnen verheiratet, so stark assimiliert, daß sie heute nicht nach Deutschland zurückkehren möchten. Aber für die meisten war es eine Phase der Emigration, eine Zuflucht in schweren Zeiten, für die wir dankbar waren, aber keine zweite Heimat, wie Amerika es für uns geworden ist.

Liselotte Dieckmann (geborene Neisser, geboren 1902 in Frankfurt (Main), gestorben 1994 in St. Louis, Missouri) war eine Germanistin, vergleichende Literaturwissenschaftlerin sowie Übersetzerin deutscher Herkunft.

Sie flüchtete im August 1933 mit ihrem damaligen Ehemann Herbert Dieckmann zunächst nach Rom, im September 1934 mit Hilfe der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft im Ausland nach Istanbul. Während ihr Mann Dozent an der Universität Istanbul wurde, arbeitete sie als Dozentin für Deutsch und Griechisch an der Istanbuler Fremdsprachenschule. Im September 1938 emigrierten beide in die USA.

Dieckmann, L., 1964: Akademische Emigranten in der Türkei. In E. Schwarz / M. Wegner (Hrsg.), Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil. Christian Wegner Verlag, Hamburg, S. 122-126