„Grosse Not hat uns veranlasst, eine Gemeinschaft zu bilden“

Der Mediziner Philipp Schwartz berichtet in seinen Memoiren über die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“, die im Jahr 1933 in Zürich gegründet wurde und 1936 nach London verlegt und mit der „Society for the Protection of Science und Learning“ vereinigt wurde. Philipp Schwartz organisierte die ersten großen Vermittlungen von Emigrantenprofessoren nach Istanbul. Im Herbst 1933 ging er selbst nach Istanbul, um das dortige pathologische Institut aufzubauen. Er beschreibt die Ankunft und die Hoffnungen vieler  (Wissenschafts-)Emigrant*innen mit ihren Familien an den neuen Zufluchtsort Istanbul.

Kaum 8 Wochen nach mener Ankunft in Zürich verfügten wir über ein imposanes Büro, hatten freiwillige und bezahlte Hilfen, die bis zu 14 Stunden im Tag arbeiteten, besassen eine fast komplette Kartothek der aktuellen und prospektiven Opfer des Rassenwahns auf wissenschaftlichem Gebiet und waren jedem bekannt geworden, der Hilfe und Hoffnung suchte. Zu unserer Popularität hat wohl auch eine heuchlerische Warnung des ‚Verbandes Deutscher Hochschulen‘ beigetragen… […]

Grosse Not hat uns veranlasst, eine Gemeinschaft zu bilden. Es handelte sich dabei nicht um den Versuch, Stellen zu finden, die uns zu einem gesicherten Einkommen vehelfen. Wir schlossen unsere Reihen, um eine Degradierung jenes Geistes zu verhüten, der uns zur Entwicklung unserer Fähigkeiten verhalf und in dessen Dienst zu stehen wir geboren wurden. Heute, kaum 6 Monate nach den abscheulichen Szenen der Vertreibung stehen wir nicht mehr allein. Wir können beruhigt, ja, stolz, in die Zukunft schauen: Jeder, der sich als Lehrer udn Forscher der Wissenschaft widmete, wird seine Arbeit weiterführen können und wenn er dabei seine Eignung vielleicht noch einmal oder noch zehnmal wird von neuem beweisen müssen. […]

Im Laufe des Oktobers trafen beinahe alle meine Freunde mit ihren Familien, Schwestern, Mütter, Schweigermütternund – Assistenzten ein. Man sah sie, etwas 150 Menschen, überall, am Taximplatz, in der Istiklal Caddesi, in den Moscheen, Museen auf Schiffen, auf den Inseln und vor allem an den Badestränden. Sie kamen direkt aus Deutschland, wo sie verachtet und verfolgt ihre oft alten Patrizierhäuser verliessen; oder aus bescheidenen Boardinghäusern Englands, aus überbevölkerten, billigen Pariser Pensionen, in welchen sie als bedrängte Emigratnen weilten. Nun lebten sie, in glücklicher Erregung, von einem gastfreundlichen Volk umgeben, frei, als verehrte, ja, verwöhnte Einwanderer.

Letterhead of Park Hotel, Istanbul, 1938. © Private Archive

An den Abenden versammelten sie sich auf der Terasse des Park Hotels (‚Park Oteli‘), ihres Hauptquartiers, in unendliche Gespräche über fröhliche Erlebnisse des Tages  vertieft oder in stiller, andächtiger Bewunderung des Bosporus, der kleinasiatischen Küste, des Serays, der Marmara, der stark funkelnden Sterne und des zunehmenden Mondes, der hier – wie auf den byzantinischen und türkischen Miniaturen – im dunkelblauen Himmel horizontal, einer Barke ähnlich, schwebte.

Schwartz, P., 1972: Die Notgemeinschaft: Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei, herausgegeben von H. Peukert, Marburg: Metropolis-Verlag, S. 4, S. 25, S. 27

 

Abb. Briefkopf des Park Hotels, Istanbul, 1938. Zitiert nach Dogramaci, B./ Lee, R., 2019: Refugee Artists, Architects and Intellectuals Beyond Europe in the 1930s and 1940s: Experiences of Exile in Istanbul and Bombay“, in ABE Journal [Online]
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