Gaus: Gibt es in Ihrer Erinnerung ein exaktes Vorkommnis, von dem an Sie Ihre Hinwendung zum Politischen datieren könnten?
Arendt: Ich könnte den 27. Februar 1933, den Reichstagsbrand und die darauf in derselben Nacht erfolgten illegalen Verhaftungen, nennen. Die sogenannten Schutzhaften. Sie wissen, die Leute kamen in Gestapo-Keller oder in Konzentrationslager. Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute von den späteren Dingen oft überblendet worden. Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, dass man jetzt einfach zusehen kann. Ich habe versucht zu helfen in manchen Dingen. Aber das, was mich dann unmittelbar aus Deutschland weggeführt hat – wenn ich das erzählen soll … ich habe es niemals erzählt, weil es ja auch ganz belanglos ist –
Gaus: Erzählen Sie bitte.
Arendt: Ich hatte sowieso die Absicht zu emigrieren. Ich war sofort der Meinung: Juden können nicht bleiben. Ich hatte nicht die Absicht, sozusagen in Deutschland als Staatsbürger zweiter Klasse herumzulaufen, in welcher Form auch immer. Ich war außerdem der Meinung, dass die Sachen immer schlimmer werden würden. Trotzdem bin ich schließlich nicht auf so eine friedliche Weise abgezogen. Und ich muss sagen, ich hatte eine gewisse Befriedigung. Ich wurde verhaftet, musste illegal das Land verlassen – ich erzähle es Ihnen gleich –, ich hatte sofort eine Befriedigung darüber. Ich dachte, wenigstens habe ich was gemacht! Wenigstens bin ich nicht unschuldig. Das soll mir keiner nachsagen. Nun, die Gelegenheit dazu gab mir damals die zionistische Organisation. Ich war mit einigen der führenden Leute, vor allen Dingen dem damaligen Präsidenten, Kurt Blumenfeld, sehr eng befreundet. Aber ich war keine Zionistin. Man hat auch nicht versucht, mich dazu zu machen. Immerhin war ich in gewissem Sinne davon beeinflusst; nämlich in der Kritik, in der Selbstkritik, die die Zionisten im jüdischen Volke entfaltet haben. Davon war ich beeinflusst, davon war ich beeindruckt, aber politisch hatte ich nichts damit zu tun. Nun, ‘33 traten Blumenfeld und ein anderer, den Sie nicht kennen, an mich heran und sagten zu mir: Wir wollen eine Sammlung anlegen aller antisemitischen Äußerungen auf unterer Ebene. Also sagen wir mal, Lehrervereine, alle Arten von Berufsvereinen, alle möglichen Fachzeitschriften: dasjenige, was im Ausland nicht bekannt wird. Diese Sammlung zu veranstalten, das fiel damals unter „Greuelpropaganda“, wie man es nannte. Das konnte kein Mensch machen, der bei den Zionisten organisiert war. Weil, wenn er hochging, die Organisation hochging.
Gaus: Natürlich.
Arendt: Ist doch klar. „Willst du es machen?“ Ich: „Natürlich.“ Ich war sehr zufrieden. Erstens schien mir das sehr vernünftig, und zweitens hatte ich das Gefühl, man kann doch irgendwas tun.
Gaus: Sie sind im Zusammenhang mit dieser Arbeit verhaftet worden?
Arendt: Ja. Da bin ich hochgegangen. Ich habe sehr großes Glück gehabt. Bin nach acht Tagen, glaube ich, rausgekommen, weil ich – der Kriminalbeamte, der mich verhaftete, mit dem freundete ich mich an. Und das war ein reizender Kerl. Der war ursprünglich von der Kriminalpolizei in die politische Abteilung avanciert. Der hatte keine Ahnung. Was sollte er da? Er sagte mir immer: „Gewöhnlich habe ich doch da immer jemand vor mir sitzen, da sehe ich bloß nach, dann weiß ich schon, was das ist. Aber, was tue ich mit Ihnen?“
Gaus: Das war in Berlin?
Arendt: Das war in Berlin. Ich habe den Mann leider belügen müssen. Ich durfte ja die Organisation nicht hochgehen lassen. Ich habe ihm phantastische Geschichten erzählt, und er sagte immer: „Ich habe Sie hereingebracht. Ich kriege Sie auch wieder raus. Nehmen Sie keinen Anwalt! Die Juden haben doch jetzt kein Geld. Sparen Sie Ihr Geld!“ Inzwischen hatte die Organisation für mich einen Anwalt besorgt. Natürlich wieder durch Mitglieder. Und diesen Anwalt schickte ich weg. Weil ich mich auf diesen Mann, der mich verhaftet hatte – so ein offenes, anständiges Gesicht – ich verließ mich und dachte, das ist eine viel bessere Chance, als irgendein Anwalt, der ja doch bloß Angst hat.
Gaus: Sie kamen raus und konnten Deutschland verlassen?
Arendt: Natürlich. Ich kam raus, musste aber illegal über die grüne Grenze, weil die Sache natürlich weiterlief.
Am 16. September 1964 fand ein Interview zwischen der politischen Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) und dem Journalisten Günter Gaus (1929–2004) statt, dass Berühmtheit erlangen würde. Seit 2013 haben mehr als eine Millionen Menschen das Interview auf Youtube gesehen.
Seit Hitlers Machtergreifung war Arendt klar, dass sie Deutschland verlassen müsste, doch es gab konkrete Schlüsselereignisse, die sie zur sofortigen Flucht veranlassten. Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 und die stattfindenden illegalen Verhaftungen politisierten sie immens und brachten sie dazu, für die zionistische Organisation im Rahmen eines Dokumentationsprojekts über Antisemitismus „auf unterer Ebene“ in Deutschland tätig zu werden. In diesem Zusammenhang wurde sie verhaftet. Es gab kein Zurück. Sie verließ Deutschland über die grüne Grenze in Richtung Paris, sobald sie freigelassen wurde. Dieses Exzerpt beweist, wie entscheidend Schlüsselereignisse für die endgültige Entscheidung zur Flucht sind.
Hannah Arendt war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.
Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.
Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt; Sendung vom 28.10.1964.
Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw
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