Hertha Nathorff: Erste Überlegungen über Auswanderung nach USA, 1934

In Auszügen aus dem Tagebuch Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945 schildert Hertha Nathorff anschaulich die für sie unbegreifliche Vertreibung aus ihrer Heimat und die Zerstörung ihres Lebens. Trotz ihrer Sehnsucht nach den Orten ihrer Kindheit und Jugend hat sie Deutschland nie wieder besucht. In Amerika hat sie sich nie wirklich zu Hause gefühlt. Das Heimweh blieb konstant. In diesem Auszug aus dem Tagebuch beschreibt sie ihre ersten Auswanderungsgedanken, wie sie im Jahr 1934 mit ihrer Familie Nazi-Deutschland in Richtung USA verlassen könnte. Palästina kam für sie nicht in Frage. Es vergingen noch viele Jahre, bevor sie diesen Schritt gehen konnte.

Ostern 1934

Mein Vetter aus Köln ist zu Besuch bei uns. „Wollen wir zusammen nach Palästina?“ frägt er mich. „Nach Palästina? Nein-nach Amerika möchte ich gehen! Aber wie?“ Ich habe heute Abend an eine Patientin geschrieben, die drüben verheiratet ist. Wenn ich nur wieder in meinen Beruf zurück kann – er ist es doch, der mich hier hält, nicht das Geld, die Bequemlichkeit. Mein Beruf, den ich liebe, der mir Lebensinhalt ist und den ich drüben nicht mehr ausüben zu können befürchte! […]

20. August 1934

In der Schweiz habe ich mich mit Vaters Vetter aus Amerika getroffen. Ich bat ihn, uns herauszuhelfen. „Aus Deiner guten Praxis willst Du heraus? Amerika will keine Arzte, geh lieber nach Kapstadt, da soll’s besser sein. Wenn Du absolut willst, ein Affidavit 11Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten. kannst Du haben.“ Und ich habe von allem nur das „Nein“ herausgehört. Vielleicht hat er recht, vielleicht wäre es ein Verbrechen, Mann und Kind in ein so ungewisses Los aus der gediegenen Praxis herauszureißen? Nur, weil ich es seelisch nicht mehr aushalten zu können glaube? Seit ich zurück bin, spüre ich die Unfreiheit und Unwahrhaftigkeit besonders stark. Warum hilft mir denn niemand? Ich bin doch etwas, kann doch etwas. Warum hilft mir niemand, draußen aufzubauen? Ich kann ohne meinen Beruf nicht leben. So werde ich wohl hier an ihm zu Grunde gehen müssen.

    Fußnoten

  • 1Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten.

Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.

Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie  mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York.  In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe für den Lebensunterhalt der Familie. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit für die Anerkennung ihres Abschlusses.

Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club.  In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.

Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 56, S. 60.