„Ich empfinde Liebe für die Person, die mich aus dem Meer gerettet hat.“
Marrie S. erzählt, was Liebe in Form von Solidarität, Unterstützung und Rettung für ihn bedeutet.
„Die Leute denken bei Liebe oft nur an das Gefühl zwischen Jungen und Mädchen, aber wenn eine Person dir hilft, viele Dinge zu tun, wie einen Job zu finden, zur Schule zu gehen, dann ist das auch Liebe. Auf der Reise mit dem Schiff als wir das Meer überquerten, halfen sie uns, nach Italien zu kommen, und als wir hierherkamen, die Leute, die sich um uns kümmerten und uns die Dokumente gaben, Essen, Bett, dies ist auch Liebe.
Ich empfinde Liebe für die Person die mich beraten hat, zur Schule zu gehen und bestimmte Dinge nicht zu tun. Ich fühle Liebe für die Person, die mich aus dem Meer gerettet hat.
Ja, für mich ist Palermo eine wunderschöne Stadt. Als ich 2016 ankam, gab es mehr Rassismus, vielleicht kannten sie die Leute nicht, die aus Afrika kamen, deshalb gibt es Rassismus. Jetzt bessert sich die Situation, sie sind an Menschen aus Afrika gewöhnt.“
Interview mit Marrie S., 12. Juni 2019, Palermo
Marrie S. kommt aus Gambia und ist seit 2016 in Palermo. Mit Unterstützung von Organisationen wie dem Centro Astalli hat er begonnen, zur Schule zu gehen.
In diesem Interviewausschnitt betont er vor allem seine Dankbarkeit für die Menschen, die ihn aus dem Meer gerettet haben. Wie Tausende andere ist er über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Im Jahr 2019 wurden vom UNHCR bis Anfang November 79.889 Menschen gezählt, die über das Mittelmeer kamen. Das ist eine kleinere Zahl als in den vergangenen Jahren. In 1.089 Fällen ist bekannt, dass Menschen dabei ihr Leben verloren. Bis Juni wurden 2019 rund 22.800 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Mit 11.418 Menschen wurde ein Großteil von ihnen nach Italien gebracht. Die staatliche Seenotrettung wurde in den letzten Jahren stark eingeschränkt. Private Seenotrettungen wie z. B. Sea-Watch, Mission Lifeline und SOS Méditerranée versuchen, diese Lücke zu füllen und so viele Menschen wie möglich zu retten, deren Leben weiterhin bei der Mittelmeerüberquerung bedroht ist. 11Alle Zahlen und Informationen stammen vom UNHCR Deutschland: FAQ Seenotrettung, in: UNHCR Deutschland Webseite, 2019: https://www.unhcr.org/dach/de/services/faq/faq-seenotrettung#01 (26.11.2019).
Die Todesfälle von Geflüchteten auf dem Mittelmeer und an anderen Orten werden seit 1993 von UNITED for International Action dokumentiert, in vielen Fällen bleibt das Schicksal von Menschen, die auf der Flucht zu Tode kommen, jedoch unbekannt.
Fußnoten
1Alle Zahlen und Informationen stammen vom UNHCR Deutschland: FAQ Seenotrettung, in: UNHCR Deutschland Webseite, 2019: https://www.unhcr.org/dach/de/services/faq/faq-seenotrettung#01 (26.11.2019).
Wie entstanden die Selbstzeugnisse, Filme und Filmfragmente in Palermo?
Diawara B. und Diallo S. von Giocherenda gestalteten mit den Teilnehmenden Glory M., Fatima D., Ismail A., Kadijatu J., Marrie S. und Mustapha F. einen dreitägigen Workshop, indem es um ihre eigenen Erfahrungen in Palermo ging. Mit verschiedenen Ansätzen und Spielen konnten in der Gruppe persönliche Erfahrungen ausgetauscht und vor der Kamera des We Refugees Archiv Filmteam in der Black Box erzählt werden. Fatima D., Ismail A. und Mustapha F. erklärten sich bereit, außerhalb des Workshops von Giocherenda mit dem We Refugees Archiv Filmteam Kurzfilme über ihr Leben und ihre Themen in der Stadt zu drehen.
Giocherenda ist eine professionelle Organisation von und mit jungen Geflüchteten in Palermo, die Spiele zum Storytelling anbietet. Es geht im Ansatz nicht darum Geflüchteten zu helfen und zu unterstützen, sondern ausdrücklich um den umgekehrten Ansatz: Geflüchtete helfen Europäer*innen im gemeinsamen Zusammensein und Erfahrungsaustausch.
Giocherenda kommt aus der afrikanischen Sprache Pular und bedeutet Solidarität, aber auch Interdependenz and Stärke, die aus der Zusammenkunft der Menschen entsteht. Es ähnelt dem italienischen Wort ‚Giocare‘ (Spielen), das das Kollektiv dazu inspirierte, Spiele zu entwickeln, die Erzählungen erzeugen und persönliche Erinnerungen teilen können.
Perspektive der Geflüchteten
Es wurde bewusst auf ein Drehbuch oder standardisierte Fragen in den filmischen Interviews verzichtet. Es ging allein um die Perspektive der Geflüchteten und die Themen, über die sie sprechen wollten. Einzige Vorgabe des Workshops war ein grober inhaltlicher Rahmen zu ihren Lebenserfahrungen in Palermo und ihren Visionen in naher Zukunft. Entsprechend konnten die Teilnehmenden frei entscheiden, was sie thematisieren und über welche Eindrücke, Probleme und Perspektiven sie sprechen wollten. Dass einige von ihnen dennoch über ihre Fluchterfahrungen nach Europa sprachen, beruhte also nicht auf einer Workshopvorgabe, sondern allein auf ihrer eigenen Entscheidung.