An Stefan Zweig
Hotel Foyot
Paris
22. III. 1933.
Sehr verehrter lieber Freund, ich danke Ihnen herzlich für Ihren lieben Brief. Der Tag, an dem ich Sie wieder sehen werde, wird mir ein wahres Fest sein. Ich nenne Sie längst im Stillen, für mich, den „Weisen vom Kapuzinerberg“. In solchen Zeiten soll man mit Ihnen sprechen, nicht nur korrespondieren. Es ist dabei ganz gleichgültig, daß ich Ihnen in vielen Punkten widersprechen muß, Diskurs mit einem Weisen, der nie ohne Widerreden geführt werden kann. Sie sprechen von Sich aus und für Sich: das Schicksal hat Ihnen Leid, Freude, Erfolg, Ruhm und 50 Jahre geschenkt, eine glückliche Jugend im Frieden und eine frische, gerüstete Männlichkeit. Verzeihen Sie einem Freunde, der Ihnen es sagt: es gilt nicht für alle Welt, die heutzutage leidet. Nicht von mir sei hier die Rede, dessen Schicksal Sie ziemlich genau kennen. Ich spreche so ziemlich, glaube ich, für eine Welt, eine gute Welt, für eine bewährte Welt. Es ist vorerst in den letzten Jahren nicht den meisten, sondern den wenigsten Schriftstellern gut gegangen – und auch das ist relativ zu sehen. Es ist in einer Zeit, in der es keine Woolworth-Magazine gegeben hat, Lessing und Wieland mit geringem Einkommen besser gegangen, als – nehmen wir: Arnold Zweig im Zeitalter des Tietz. [ Sie haben ein paar junge Schriftsteller, ohne Sorgen, ohne schweres privates Schicksal vor Augen, die mit relativ hohen Honoraren leichtsinnig gelebt hat, aber (auch sie) keineswegs von Sorgen frei. Und, was die Juden betrifft: so ist dieses Volk erstens in Auflösung begriffen (dank Rußland) und wir in 50–100 Jahren nicht mehr vorhanden sein. Zweitens: sind die heutigen Juden – weil sie seit 200 Jahren nicht mehr in ihrer geistigen Heimat leben, gar nicht mehr imstande, physiologisch nicht, die Leiden ihrer Ahnen zu ertragen. Haben Sie Talmud gelernt? Beten Sie jeden Tag zu Jehovah? Legen Sie Tefilim? Nein, es ist vorbei – und man trägt eben mitten im Deutschtum als ein Deutscher das Erbe, das von allen andern Völkern der gesitteten Erde, wen nicht immer freudig angenommen, so doch zumindest nicht mit dem Gummiknüppel bestraft wird. Im Übrigen: so weise Sie daran tun, jetzt keine repräsentativen Vorträge zu halten: Sie werden sich darüber klar sein, daß ein Widerspruch ist zwischen der durchaus legitimen Haltung eines Europäers, die Sie Zeit Ihres Lebens als ein deutscher Schriftsteller von Rang und Gnaden gegen Bestialität eingenommen haben und der spontanen Besinnung auf die Pflicht zu Schweigen und Leiden, die vielleicht, ja, sicher Ihren Ahnen angestanden hat, aber nicht mehr Ihnen, das freiwillige, meine ich natürlich. Man konnte das 6000jährige jüdische Erbe nicht verleugnen; aber ebensowenig kann man das 2000jährige nicht jüdische verleugnen. Wir kommen eher aus der „Emanzipation“, aus der Humanität, aus dem „Humanismus“ überhaupt, als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind Goethe Lessing Herder nicht minder als Abraham Isaac und Jacob. Im Übrigen werden wir nicht mehr, wie unsere Vorfahren von frommen Christen geschlagen, sondern von Gottlosen Heiden. Hier geht es nicht gegen Juden allein. Obwohl sie, wie immer, das schärfste Geschrei erheben. Hier geht es gegen die europäische Zivilisation, gegen die Humanität, deren Vorkämpfer Sie mit Recht und Stolz sind. (Und gegen Gott)
Und das Praktische:
1.) Es ist bereits so weit (nur unter uns) – die Juden Landshoff und Landauer können den Verlag K. [Kiepenheuer.] nicht mehr halten.
2.) Landauer selbst ist in Wien, hat mit Zsolnay gesprochen und dieser hat kein Geld, mich zu kaufen.
3.) Ich habe meinen Vorschuß von 35.000 auf 10.000 Mark herunter gebracht; für einen Autor mit meinem Erfolg eigentlich nicht viel. Trotzdem findet sich kein „Abnehmer“.
4.) Bis auf 4000 Mark und der Summe, die ich Ihnen schulde, sind alle meine Schulden bezahlt.
5.) Wenn mich nun auch Fischer nicht nimmt, hänge ich in der Luft.
Und nun für Sie:
Es nicht richtig, daß Sie auch für den Fall einer Gefahr bleiben wollen. „Es steht geschrieben“, daß der Mensch, der sich freiwillig in Gefahr begibt, eine Sünde begeht. Das Leben ist ein Geschenk Gottes. Nur für Gott darf man sich in Gefahr begeben. Man darf auch nicht im Voraus zu wissen wagen, ob oder daß das Schicksal Einen ereilen wird. Aus einem brennenden Haus muß man laufen und wenn draußen dann ein Unfall den Flüchtigen tötet, so ist es erst dann Gottes Wille.
Ich weiß, daß Sie wissen, was ich meine und wie sehr ich um Sie, körperlich und anders, besorgt bin.
Grüßen Sie herzlich Ihre Frau.
Ihr alter Freund
Joseph Roth
Joseph Roth gilt als einer der bekanntesten Journalisten der 1920er Jahre, als präziser Chronist, erfolgreicher Romanautor und engagierter Gegner des Nationalsozialismus. Sein literarisches und journalistisches Werk besteht aus Zeitungsartikeln, Glossen, Reiseberichten, Feuilletons, Romanen und Erzählungen.
Roth wuchs im ostgalizischen Brody auf, studierte in Lemberg und Wien, war Soldat im Ersten Weltkrieg und erlebte den Zusammenbruch Österreich-Ungarn – seiner Heimat. Nostalgie nach diesem multiethnischen Reich begleitete ihn den Rest seines Lebens und viele seiner Romane widmen sich dem Verlust von Heimat und der Erfahrung von Entwurzelung. Ab 1919 arbeitete er als Journalist für verschiedene Wiener, Berliner und Prager Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Frankfurter Zeitung.
Ab 1933 durfte Roth als Jude dort nicht mehr publizieren. Er verließ Deutschland endgültig und führte sein Engagement gegen die nationalsozialistische Diktatur im Pariser Exil fort. Er engagierte sich für die Geflüchtetenhilfe, zum Beispiel für Entre‘ Aide Autrichienne und pflegte intensive Verbindungen zu geflüchteten Schicksalgenoss*innen, unter ihnen Stefan Zweig (1881–1942), an den auch der zitierte Brief adressiert war, Ernst Toller (1893–1939), Egon Erwin Kisch (1885–1948), Soma Morgenstern (1890–1976) und Irmgard Keun (1905–1982). Die meiste Zeit lebte er in Paris in Hotels. Das Café Le Tournon wurde für Roth zum Hauptaufenthaltsort, an dem er seine „Entourage“ um sich versammelte. Schwer alkoholkrank waren seine letzten Jahre deutlich geprägt von den politischen Verhältnissen und den Erfahrungen des Geflüchtetendaseins. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er nicht mehr; er starb am 27. Mai 1939 im Pariser Armenhospital Hôpital Necker.
In dem Brief, den er Stefan Zweig am 22. März 1933 schickte, setzt sich Roth mit deutsch-jüdischer Identität und Betroffenheit von der nationalsozialistischen Herrschaft auseinander. Dabei geht es in erster Linie um Ideale „europäischer Zivilisation“ und „Humanität“, aber auch um ganz konkrete materielle Sorgen als jüdischer Publizist und um die Frage der Auswanderung.
Joseph Roth an Stephan Zweig, 22. März 1933, Paris.
Joseph Roth, 1970: Briefe 1911–1939. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch. p. 256–258.