Mascha Kalékos Brief an die Bundesstelle für Entschädigung, Dezember 1957

Im Rahmen ihrer jahrelangen Bemühungen um materielle Entschädigungen für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten beschrieb die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) in einem Brief an die Bundesstelle für Entschädigung vom 09. Dezember 1957 ihre Versuche, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Nach langen, aber vergeblichen Bemühungen um eine Einwanderungsgenehmigung für Palästina, gelang ihr die Flucht mit ihrer Familie erst 1938 – in die USA.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

An die Bundesstelle für Entschädigung

New York, 9.12.1957

Sehr geehrte Herren!

In Beantwortung Ihres Schreibens vom 15.11.1957 teile ich Ihnen hierdurch folgendes höflichst mit:

1) Meine standesamtliche Eheschliessung mit dem Dirigenten und Komponisten Chemjo Vinaver 11Ehemann von Mascha Kaléko und Musiker (1895–1973). fand am 28. Juni 1938 in Berlin statt.

2) Die Gründe, aus denen ich erst im Jahre 1938 auswandern konnte, wird, so hoffe ich, die Darstellung der folgenden Tatsachen aufzeigen:

Da ich von Beginn an die Ziele und Methoden der nationalsozialistischen Bewegung genau verfolgt hatte, war ich mir sofort nach der Machtergreifung darüber im Klaren, dass für die Juden im allgemeinen keine Zukunftsaussichten in Deutschland mehr bestünden. Dazu kam in meinem speziellen Falle die Einsicht, dass ich, auf Grund der neben meiner beruflichen Tätigkeit bei der Gemeinde entfalteten schriftstellerischen Tätigkeit, über kurz oder lang wie alle in deutscher Sprache schreibenden Dichter jüdischer Abstammung besonderer Verfolgung ausgesetzt sein würde. So fasste ich bereits im Jahre 1934 den Entschluss auszuwandern. Da ich nicht damit rechnen konnte, sofort eine Einwanderungsmöglichkeit in ein anderes Land zu finden und die Wartezeit für die Vorbereitung auf einen entsprechenden Beruf ausnützen wollte, der mir in einem fremden Lande eine Erwerbsmöglichkeit bieten würde, gab ich zu dem Zeitpunkt, da ich mich grundsätzlich zur Auswanderung entschloss, also im Jahre 1934, meine Stellung bei der Jüdischen Gemeinde Berlin, die ich 10 Jahre lang innegehabt hatte, auf, um mich der Vorbereitung und Bewerkstelligung der Auswanderung zu widmen.

Diese Tatsache ist auch von dem damaligen Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Berlin, Herrn Dr. Walter Breslauer, in seiner Bescheinigung vom 16.III.1954 bestätigt worden. Diese Bescheinigung befindet sich bei den Akten, und ich darf deshalb auf sie verweisen. Als mein Auswanderungsziel hatte ich Palästina ins Auge gefasst.

Es gelang mir aber trotz meiner Bemühungen nicht, das erforderliche Zertifikat für die Einwanderung in dieses Land zu erhalten, und es wurde mir eröffnet, dass ich in jedem Falle einige Zeit bis zur Erteilung der Einwanderungsgenehmigung warten müsste. Ich benutzte diese Zeit, um mich auf einen entsprechenden Beruf vorzubereiten, und trat zu diesem Zwecke im Jahre 1934 in die Reklamefachschule Reimann in Berlin ein, wo ich Kurse in Werbetechnik, Werbe-Text, Bildredaktion, Graphik, etc. nahm. Eine Berufsumschichtung auf diesem Gebiete lag für mich nahe, da ich keinerlei praktische Begabung hatte, hingegen etwas von der Kunst des Schreibens von Werbe-Texten verstand. Mit dieser Ausbildung in der Reimannschule verband ich das Studium der hebräischen Sprache, deren Kenntnis für die Einwanderung in Palästina unerlässlich schien.

Als meine Bemühungen, das Einwanderungszertifikat zu erlangen, im Laufe des Jahres 1934 erfolglos blieben, beantragte ich ein Besucher-Visum für Palästina. Dieses wurde mir bewilligt, und so fuhr ich im Frühjahr 1935 nach Palästina in der Hoffnung, an Ort und Stelle vielleicht etwas für meine Einwanderung dorthin erreichen zu können. Auch diese Bemühungen erwiesen sich jedoch als vergeblich, und ich musste nach einigen Monaten unverrichteter Dinge nach Berlin zurückkehren.

Mein Entschluss, Deutschland zu verlassen, war aber unverändert, wenn nicht verstärkt, bestehen geblieben. Ich richtete meine Anstrengungen nun vornehmlich auf die Erlangung eines Visums für USA. Zu diesem Zwecke nahm ich auch an den Intensiv-Kursen für Auswanderer teil, die von der Reichsvertretung deutscher Juden eingerichtet worden waren, da eine Aussicht bestand, das amerikanische Visum zu erlangen, wenn es einem gelang, einen Affidavit-Geber 22Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten. zu finden.

Da ich im Jahre 1936 die Geburt meines Kindes 33Mascha Kalékos Sohn Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name in Exil in Steven Vinaver (1936-1968) geändert wurde. erwartete, und meine Auswanderung auch noch aus anderen Gründen äusserst dringend geworden war, bemühte ich mich verzweifelt um eine Emigrationsmöglichkeit. Ich wandte mich sogar an wildfremde Menschen im Auslande – zunächst ohne Erfolg. Dann hörte ich, dass in dringlichen Fällen einige in Palästina ansässige amerikanische Bürger sich bereit gefunden hatten, Leuten meiner Art ein Affidavit zu geben, und ich beschloss, diesen Versuch zu machen. Und so reiste ich denn, kaum, dass ich mein Kind der Betreuung anderer überlassen konnte, im April 1938 wiederum nach Palästina, um mich dort um die Erlangung eines Affidavits für das amerikanische Visum zu bemühen. Ich nahm Empfehlungen der Ehefrau des jetzigen Staatskontrolleurs des Staates Israel, Dr. Siegfried Moses, an die betreffenden amerikanischen Juden dort mit.

Im Frühjahr 1938 erhielten wir endlich ein Affidavit, und im Herbst 1938, im gleichen Jahre, wurde uns das Einwanderungsvisum vom amerikanischen Konsulat in Berlin erteilt, sodass ich nunmehr Deutschland verlassen konnte.

    Fußnoten

  • 1Ehemann von Mascha Kaléko und Musiker (1895–1973).
  • 2Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten.
  • 3Mascha Kalékos Sohn Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name in Exil in Steven Vinaver (1936-1968) geändert wurde.
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Ihr Brief an die Bundesstelle für Entschädigung vom 9. Dezember 1957 war Teil eines langen Prozesses, in dem sich Mascha Kaléko seit 1951 um materielle Entschädigung ihrer Verluste durch die nationalsozialistische Verfolgung bemüht hatte. 11Zu Mascha Kalékos Wiedergutmachungsbemühungen siehe Rosenkranz, Jutta, 2016: „Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiss nur nicht, wonach …“. Mascha Kaléko. Dichterin und Emigrantin, pp. 7-11 in: Aktives Museum Mitglieder Rundbrief 74, https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/uploads/tx_tafeln//Mascha_Kaleko_Aktives_Museum_Rundbrief_74_Jan_2016.pdf (02.07.2020). Die in den 1950er Jahren zum Bundesgesetz zur Entschädigung der Opfer nationalsozialisitischer Verfolgung vereinheitlichten Entschädigungsregelungen der Bundesrepublik Deutschland ermöglichten zwar grundsätzlich eine materielle Entschädigung vieler Verfolgter, waren aber aufgrund knapper Antragsfristen, des hohen bürokratischen Aufwands, schwieriger Nachweispflichten und des Ausschlusses vieler verfolgter Gruppen (z.B. als sogenannte „Asoziale“, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunist*innen Verfolgte) problematisch. 22Für einen umfassenden Überblick zur deutschen Wiedergutmachungspolitik siehe Hockerts, Hans Günther: Wiedergutmachung in Deutschland 1945–1990. Ein Überblick, in bpb, 07.06.2013, https://www.bpb.de/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-19451990-ein-ueberblick?p=all (02.07.2020). Mascha Kaléko bemühte sich bei unterschiedlichen deutschen Behörden um die Wiedergutmachung für sich und ihren Mann Chemjo Vinaver, die ihr zumindest teilweise im Jahr 1959 ausgezahlt wurde. Während Ihres Aufenthalts in Berlin im Frühling 1956 hatte sie sich beim Berliner Innensenator und Leiter des Entschädigungsamtes Lipschitz getroffen, „sodass ich mit ihm die Dringlichkeit und Ausserordentlichkeit unserer beiden zerstoerten Kuenstlerkarrieren bespreche“ 33Kaléko, Mascha, 1956: An Chemjo Vinaver, Berlin, 23.3.1956, pp. 312 ff. in: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band II – Briefe 1932-1962. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz © 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.

Der Brief vom Dezember 1957 gibt Aufschluss über Kalékos Emigrationsbemühungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland seit 1933. Sie schildert, dass sie zunächst versuchte, das von der britischen Mandatsregierung ausgestellte Einwanderungszertifikat für die Einwanderung nach Palästina zu erhalten und dafür auch eine berufliche Umorientierung, Hebräischsprachkurse und eine Reise in das Mandatsgebiet Palästina auf sich nahm. 44Zur Emigration verfolgter Jüdinnen*Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina siehe: Wünschman, Kim: Palästina als Zufluchtsort der europäischen Juden bis 1945, in: bpb, 16.09.2014, https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/gerettete-geschichten/149158/palaestina-als-zufluchtsort-der-europaeischen-juden (02.07.2020). Nachdem diese Bemühungen erfolglos blieben, gelang es ihr schließlich 1938, ein Affidavit 55Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten. für die USA zu erhalten, wohin sie im selben Jahr mit ihrer Familie über Frankreich emigrierte.

    Fußnoten

  • 1Zu Mascha Kalékos Wiedergutmachungsbemühungen siehe Rosenkranz, Jutta, 2016: „Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiss nur nicht, wonach …“. Mascha Kaléko. Dichterin und Emigrantin, pp. 7-11 in: Aktives Museum Mitglieder Rundbrief 74, https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/uploads/tx_tafeln//Mascha_Kaleko_Aktives_Museum_Rundbrief_74_Jan_2016.pdf (02.07.2020).
  • 2Für einen umfassenden Überblick zur deutschen Wiedergutmachungspolitik siehe Hockerts, Hans Günther: Wiedergutmachung in Deutschland 1945–1990. Ein Überblick, in bpb, 07.06.2013, https://www.bpb.de/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-19451990-ein-ueberblick?p=all (02.07.2020).
  • 3Kaléko, Mascha, 1956: An Chemjo Vinaver, Berlin, 23.3.1956, pp. 312 ff. in: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band II – Briefe 1932-1962. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz © 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.
  • 4Zur Emigration verfolgter Jüdinnen*Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina siehe: Wünschman, Kim: Palästina als Zufluchtsort der europäischen Juden bis 1945, in: bpb, 16.09.2014, https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/gerettete-geschichten/149158/palaestina-als-zufluchtsort-der-europaeischen-juden (02.07.2020).
  • 5Mit dem Affidavit ist eine Bürgschaftserklärung gemeint, mit der Bürger*innen und Organisationen in einem Aufnahmeland, zum Beispiel den USA, bei der Beschaffung von Einreiseerlaubnissen für Verfolgte im nationalsozialistischen Deutschland und dem von ihn besetzten Gebieten helfen konnten.

Kaléko Mascha, 1957: An die Bundesstelle für Entschädigung, New York, 9.12.1957, pp. 621 ff. in
Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band II – Briefe 1932-1962. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz © 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.