Von Erwartungen und Erinnerungen – und Vergleichen und Vergessen

Mohammad erzählt in einem Interview von seinem Ankommen in Deutschland, über Erwartungen und Erinnerungen – über das Vergleichen und Vergessen. Und über Berlin: Eine Stadt, die ihm Neues zeigt und Chancen bietet. Aber auch ablenkt, Zeit klaut und einen verändert.

 

Hattest du, bevor du nach Deutschland gekommen bist, spezifische Erwartungen an Deutschland? Und wie sah es danach aus, als du dann hier warst?

Mohammad

Hmm, ehrlich zu sagen, habe ich nie etwas nachgeschaut und ich kannte Deutschland nur vom Hörensagen. Was jeder kennt. Und ich habe auch nicht mehr erwartet. Dass du etwas kriegst und, dass du dich sicher fühlst. Das war das Wichtigste. Ja, also es gibt bestimmt auch anderes, aber ich hatte keine Ahnung. Ich habe hier alles kennengelernt. Also direkt.

Und hast du das Gefühl, dass Deutschland, bzw. die Menschen hier, Erwartungen an dich haben?

Mohammad:

Also als erstes kriegst du deine Grundbedingung für Lebensmittel und Wohnung, damit du niemanden störst. Und das ist so, damit du keine Probleme machst. Das ist das erste, was von uns erwartet wird und, dass wir auch arbeiten. Und dass wir die deutschen Gesetze akzeptieren. Weil wir leben in Deutschland und nicht in einem arabischen Land.

Und wie fühlst du dich in Deutschland? Fühlst du dich gut oder schlecht aufgenommen?

Mohammad:

Also schlecht auf jeden Fall nicht. Ich fühle mich besser als gut. Also auch gut finde ich nicht genug. Vielleicht nur ein bisschen vermissen und solche Sachen…

Und kannst du mir von einer Situation erzählen, wo dieses Gefühl sehr präsent ist? Also, dass du sagst, du fühlst dich sehr gut, aber auch gleichzeitig, dass du Heimweh hast.

Mohammad:

Hmm, also nur wenn ich Schwierigkeiten habe. Also man braucht Zeit. Ich bin ganz zufrieden. Und Zeit bekommen wir doch und mehrere Chancen auch. Deshalb fühlt man sich gut und auch wohl. Aber es ist nicht einfach, das was du in deinen letzten 20 Jahren gelernt hast, sofort wegzumachen. Es bleiben Dinge, die du vermisst.  Besonders auch die Familie. Aber zum Glück gibt es jetzt Internet und man freut sich, dass du auch dabei sein kannst. Ich rede mit meiner Mutter, wie ich jetzt mit dir rede. Und eigentlich klappt es so, ein gutes Gefühlt zubekommen.

Du meintest, dass es nicht einfach ist Sachen, die man 20 Jahre lang erlebt hat oder gelernt hat „wegzumachen“. Was meinst du damit? Was wegmachen?

Mohammad:

Also wenn du machen willst, was du immer gemacht hast; willst du das gleiche machen oder die gleichen Leute treffen oder so… Das ist bei dir so. Die anderen können vielleicht jemanden besuchen. Wir können das nicht und das ist ein bisschen nicht so klar… Und das braucht auch Zeit. Und du brauchst etwas, mit dem du dich beschäftigst. Damit du nicht an das denkst.

Und wie beschäftigst du dich, damit du nicht daran denkst?

Mohammad:

Gib dem keine Chance, dass du soviel an sowas denkst. Also nur ein bisschen. Denn ansonsten wird man ein bisschen aggressiv oder ein bisschen fangen Nachteile an. Wenn man Sport macht, kocht, du etwas für dich selbst machst und lernst und du müde ins Bett gehst und direkt schläfst, dann läuft es besser. Es geht eigentlich gut dann.

Und was verbindest du mit deinem Wohnort Berlin? Was magst du an Berlin oder was magst du nicht an Berlin?

Mohammad:

Ich mag Berlin, weil die Stadt mir geholfen hat. Und sie hat mir den Eindruck gegeben, dass ich nicht an meine Vergangenheit denke. Und sie gibt mir immer etwas Neues und immer neue Chancen. Und Berlin ist wirklich gut. Ich denke, so etwas gibt es nicht woanders.

Ja, und Berlin ist auch die Hauptstadt. Aber man muss auch aufpassen. Denn man verliert die Zeit. Es könnte sein, dass Berlin dich klaut. Man muss sich ein Ziel setzen. Man darf nicht einfach da oder da hingucken, denn dann kann es sein, dass du dich verspätest oder es kann auch sein, dass Berlin dich ändert.

Berlin kann dich ändern. Wie meinst du das?

Mohammad:

Also zum Vergleich: Du kannst unsere Stadt nicht mit Berlin vergleichen. Ich komme nicht aus der Hauptstadt. Ich bin aus einer Stadt, wo weniger als 1 Million Menschen leben. Und bei uns gibt es auch nicht so viel Technology. Und hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Also jeder findet bestimmt, was er mag und man sieht viele Leute und man kann für sich selbst das Beste besorgen. […]

Ansonsten, verglichen zu früher habe ich viel Zeit. Ich bin raus aus meinem Land. Und ich wusste nicht, dass es in dieser Welt so „Hochländer“ und „Unterländer“ gibt. Darüber habe ich mich wirklich überrascht… Aber seit einem Jahr vergleiche ich nicht mehr zwischen hier und unserem Land. Das habe ich öfter gemacht und das war nicht schön.

 

Mohammad floh 2016 aus Syrien nach Deutschland. Er kam in München an und fuhr noch am selben Tag weiter nach Berlin. Hier lebt er nun in einer WG, lernt Deutsch und arbeitet gelegentlich als Übersetzer.

Das Interview wurde von Laura-Sophie Hauser im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv durchgeführt und ausgewertet.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.