„Im Sommer 2015 kamen viele Geflüchtete in Deutschland an. Afghanistan ist nach Syrien das zweitstärkste Herkunftsland. Der große Teil der afghanischen Flüchtlinge hat sich in diesen drei Jahren gut integriert. Trotz aller Hürden haben viele schon die Sprache gelernt und bereits eine Ausbildung angefangen. Wenn ich von Hürden spreche, meine ich die, von denen insbesondere Afghanen betroffen sind. Sie gehören zur Gruppe von Geflüchteten mit einer Schutzquote von weniger als 50 %, das heißt, nur noch bei weniger als der Hälfte aller Asylentscheidungen werden berechtigte Fluchtgründe anerkannt. Konkret bedeutet dies, dass Afghanen keinen Anspruch auf einen Integrationskurs haben; denn einen Zugang zu diesen Kursen während des laufenden Asylverfahrens erhalten nur Geflüchtete mit einer „guten Bleibeperspektive“. Aber auch ohne den rechtlichen Anspruch bemühen sich viele, die deutsche Sprache zu lernen und sich in ihrem neuen Land zu integrieren.
Die Einordnung in die Kategorie einer sog. ‚geringen Bleibeperspektive‘, die einem je nach Herkunftsland automatisch zugeschrieben wird, erschwert auch die Suche nach einem Ausbildungsplatz. Ich möchte zum Beispiel Hebamme werden. In Berlin gibt es aber mit etwa 60 Plätzen nur sehr wenige Ausbildungsplätze in diesem Bereich. Und da werden bevorzugt Deutsche eingestellt, danach EU-Bürger, dann eventuell auch Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis. Als Geflüchtete ohne Aufenthaltsgenehmigung werde ich dazu kaum eine Chance bekommen. Würde ich aber in einer anderen Stadt einen Ausbildungsplatz finden, dürfte ich als Asylbewerberin wegen der Residenzpflicht gar nicht erst hingehen. Diese Probleme vermindern nicht nur meine Chancen zu einer guten Integration, sondern rauben auch die Motivation. Würde der Staat statt solcher Einschränkungen schon früh bessere Integrationsbedingungen schaffen, könnte das Ergebnis bei der Integration von Geflüchteten viel besser ausfallen, obwohl die Zahlen auch jetzt schon gut aussehen.
Ich habe mittlerweile gut Deutsch gelernt, meinen Hauptschulabschluss gemacht und befinde mich gerade in einer Ausbildung zur Pflegeassistentin, was Voraussetzung für eine Hebammenausbildung ist. Das heißt, ich bin angekommen, nehme teil an der Gesellschaft und versuche mich so gut es geht zu integrieren. Nun wurde mein Asylantrag abgelehnt. Ob ich bleiben kann und wie es für mich weitergeht, ist völlig offen. Das neue Konzept, das mit ‚Angekommen in Berlin‚ überschrieben ist, gilt bisher für mich leider noch nicht, denn ich weiß immer noch nicht, wann ich tatsächlich angekommen sein werde.“
Somayeh Rasouli, 2018
Zuerst veröffentlicht in der kulturTÜR, dem Magazin von und für Geflüchtete und ihre Nachbarn. Die kulturTÜR ist ein Projekt der DRK Berlin Südwest gGmbH und wird gefördert mit Mitteln des bezirklichen Integrationsfonds Steglitz-Zehlendorf. Der Integrationsfond ist eine Maßnahme des Gesamtkonzepts zur Integration und Partizipation Geflüchteter des Senats von Berlin.
Somayeh Rasouli wurde als afghahnische Staatsbürgerin im Iran geboren und wuchs dort auf. Im September 2016 kam sie nach Berlin. Um ihren Traum, Hebamme zu werden, zu erfüllen, hat sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin begonnen. Sie schreibt für das Magazin kulturTÜR, das von und für Geflüchtete und ihre Nachbarn in Berlin gemacht wird. KulturTÜR ist ein Projekt des DRK und wird von der Stadt Berlin gefördert. Auch der Artikel „Angekommen in Berlin?“ ist in diesem Magazin erschienen.
Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige Gesamtkonzept des Berliner Senats „zur Integration und Teilhabe Geflüchteter“ in der Stadt. Somayeh Rasouli erwähnt unter anderem, dass ihr dieses Programm ermöglicht hat, auch als afghanische Staatsangehörige einen Sprachkurs zu besuchen. Bundesfinanzierte Integrationskurse können nur von Menschen mit Aufenthaltserlaubnis oder hoher Bleibeperspektive besucht werden. Der Berliner Senat hat allerdings beschlossen, ergänzende Angebote für Menschen, die zu diesen bundesfinanzierten Kursen keinen Zugang haben, zu finanzieren. Trotzdem stößt Somayeh bei ihrem Ankommens- und Neuanfangsprozess durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit „geringer Bleibeperspektive“ immer wieder auf Hürden, so zum Beispiel bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Dass ihre erfolgreichen Bemühungen am Ende doch keine sicheren Aussichten versprechen, weil ihr Asylantrag abgelehnt wird, lässt sie zu dem kritischen Schluss kommen, dass die Berliner Devise „Angekommen in Berlin“ für sie keine Gültigkeit haben kann, solange keine Sicherheit über ihren rechtlichen Status besteht.
Afghanistan gehörte in den vergangenen Jahren fast immer zu den fünf Ländern, aus denen die meisten Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellen. Es gibt viele Debatten darum, ob trotz der weiterhin sehr instabilen und unsicheren Lage im Land Abschiebungen dorthin stattfinden können und ob die drastisch gesunkene Anerkennungsquote bei Asylbewerber*innen aus Afghanistan gerechtfertigt ist.
Auch wenn sich an den hier erwähnten Regelungen zwischenzeitlich einiges geändert hat – so wurde beispielsweise die Vorrangprüfung, dergemäß die Arbeitsagentur prüfen musste, ob ein*e EU-Bürger*in vorrangingen Anspruch auf einen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz hat, ab 2019 weitestgehend ausgesetzt – ist der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sprachkursen etc. für viele Geflüchtete in Deutschland weiterhin sehr schwierig und wird durch einen unsicheren Aufenthaltsstatus verschärft.
Rasouli, Somayeh: Angekommen in Berlin?, in: kulturTÜR, 2018, http://www.kulturtuer.net/2019/05/05/angekommen-in-berlin/ (06.08.2020).
Zuerst veröffentlicht in der kulturTÜR, dem Magazin von und für Geflüchtete und ihre Nachbarn. Die kulturTÜR ist ein Projekt der DRK Berlin Südwest gGmbH und wird gefördert mit Mitteln des bezirklichen Integrationsfonds Steglitz-Zehlendorf. Der Integrationsfond ist eine Maßnahme des Gesamtkonzepts zur Integration und Partizipation Geflüchteter des Senats von Berlin.