„Warum kennen die meisten Deutschen über andere Gesellschaften nur alte Stereotype?“
Die Syrisch-Kurdische Schriftstellerin Widad Nabi über die Vorurteile gegenüber Geflüchteten
Ankommen ist in erster Linie die psychologische Bereitschaft anzukommen und den Faden zur Vergangenheit durchzuschneiden. Ich glaube, dass Ankommen für jede Person etwas anderes bedeutet. Einige sind angekommen, sobald sie das neue Land betreten haben, andere leben viele Jahre im neuen Land ohne anzukommen. Es gibt viele, die die deutsche Sprache fließend sprechen und ein soziales Netzwerk aufgebaut haben, aber tief im Innern stecken sie noch immer an der Grenze fest. Es ist ein psychologisches Gefühl, das mit einer Vielzahl von Faktoren und Umständen verbunden ist.[…]
Wenn das Sprachproblem gelöst ist, schwindet die Distanz in den Beziehungen zwischen den Neuankömmlingen und der Aufnahmegesellschaft. Ich habe sehr starke Freundschaften mit Deutschen, und ich hatte nie das Gefühl, dass zwischen uns eine Distanz besteht. Vielleicht, weil es uns um Literatur, Kultur und Freiheiten geht.[…]
Wenn wir das menschliche Gehirn kennenlernen wollten, würde ich sagen, es besteht aus Erinnerungen. Die Erinnerungen bleiben, am Anfang stark, aber allmählich verblassen sie, das neue Leben und seine Anforderungen überlagern sie. Aber Erinnerungen sind die Wurzeln, und niemand kann seine Wurzeln abschneiden, ohne zu sterben. Heimat sind Erinnerungen, sowohl glückliche als auch traurige. Man kann mehrere Heimaten aufbauen, wenn man Erinnerungen dort sammelt. Wenn ich ein paar Tage verreise, vermisse ich Berlin, vermisse ich mein Zuhause und die Stadt, als wären sie wirklich meine Heimat. Zugehörigkeit ist nicht nur mit Religion, Hautfarbe oder Nationalität verbunden. […]
Als Schriftstellerin kann ich deutschen Leser*innen einen Teil meiner Kultur durch Artikel vermitteln, die ich in der deutschen Presse veröffentliche. Aber dazu braucht es einen Wunsch in der Aufnahmegemeinschaft, etwas über die Kultur der Neuankömmlinge zu lernen. Es gibt viele vorgefertigte Muster und Stereotypen. Überall, wo ich hingehe, wird mir gesagt, dass ich nicht wie eine syrische Geflüchtete aussehe. Ich glaube, in den Köpfen der deutschen Gesellschaft ist eingepflanzt, dass ein Geflüchtete schmutzige, abgenutzte Kleidung trägt und als Frau auf jeden Fall ein Kopftuch trägt. Warum kannte ich Deutschland vor meinem Asyl in Deutschland? Warum kannte ich die Geschichte der Mauer und Ingeborg Bachmann, Nietzsche, Habermas, Rilke, Günter Grass, Hannah Arendt, die Gruppe 47, Thomas Mann, Brecht und andere? Warum kennen die meisten Deutschen über andere Gesellschaften nur alte Stereotype?
Dies ist auch eine Form des Fanatismus, auch wenn es kein religiöser Fanatismus ist.[…]
Bildung ist natürlich wichtig, aber viele Einwanderer haben bereits ein höheres Bildungsniveau. Im neuen Land müssen unsere Abschlüsse anerkannt und nach dem Erlernen der Sprache Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden. Ansonsten müssen wir bei Null anfangen und fühlen uns wertlos. Das Problem für uns als Geflüchtete oder Einwanderer ist, wenn unsere Zertifikate, die wir in unseren Heimatländern erhalten haben, so behandelt werden, als wären sie nichts wert. Als ob wir nichts gelernt hätten. Als ob wir vor unserer Ankunft nicht existiert hätten.[…]
„Die Sprache ist das Haus des Seins“, bemerkte Martin Heidegger. Jeden Tag, wenn ich ein neues deutsches Wort lerne, habe ich das Gefühl, dass ich mehr zu diesem Ort gehöre. Als ich die Namen einiger Bäume und Blumen auf Deutsch lernte, hatte ich das Gefühl, einen Teil meiner Kindheitserinnerungen an meine Großmutter wiedererlangt zu haben.[…]
Ich kann meine Träume und Albträume nicht verstehen: Obwohl ich seit fast fünf Jahren in Deutschland lebe und mit meinem Mann einen Haushalt gegründet habe, obwohl ich mit meinem neuen Leben zufrieden bin, träume ich bis heute nur von dem Haus, mit dem ich mit meiner Familie in Aleppo lebte. Auch meine Albträume handeln von der Vergangenheit, als ob die Gegenwart in meinen Träumen oder Unterbewusstsein noch keinen Platz gefunden hat.
Widad Nabi wurde in Kobani geboren und lebt heute in Berlin. Die syrisch-kurdische Schriftstellerin studierte Wirtschaftswissenschaften in Aleppo. Sie veröffentlichte zahlreiche Texte in Zeitungen und Magazinen. In Deutschland publizierte sie u.a. in der Berliner Zeitung, SPON und Kursbuch. Ihr erstes Buch auf Deutsch erschien 2019. Im Jahr 2018 erhielt sie das erste „Weiterschreiben-Stipendium Wiesbaden“.
In ihren Texten beschäftigt sich Widad Nabi mit dem Verlust von vertrauten Orten, Menschen und Sprachen, aber auch mit ihrem Ankommen in der neuen Stadt Berlin. Ihre bei Weiterschreiben veröffentlichten Gedichte können dort auch angehört werden.