Mein Vater fiel 1914 für Deutschland, natürlich habe ich keine Erinnerung an ihn. 1915 zog meine Mutter mit mir und meiner Schwester von meinem Geburtsort Hamburg nach Frankfurt/Main. Die Familie meiner Mutter stammte aus Schotten und Frankfurt, die meines Vaters aus Bad Nauheim. Mein Ur-Ur-Ur-Großvater, Mos. Samuel Rosenthal, erhielt 1793 als erster Jude Wohnrecht in Nauheim.
Von 1920-1929 besuchte ich die Samson-Raphael-Hirsch-Schule. Danach begann ich eine Lehre bei Heinrich Wertheimer, Spitzen etc., Bahnhofsplatz 12 in Frankfurt.
Meine Mutter erhielt für sich und uns zwei Kinder nur eine sehr niedrige Kriegswitwenrente. Wir hatten also nichts aufzugeben, und es war 1933 daher für uns eine leichte Entscheidung, trotz bzw. gerade durch den bisherigen Patriotismus auszuwandern, nachdem wir nicht mehr gleichberechtigte Staatsbürger waren. Meine Schwester, deren Arbeitsstelle in dem in Frankfurt größten (jüdischen) Warenhaus Hermann Wronker gefährdeter war als meine, verließ Deutschland bereits im Mai 1933, illegal, als Tourist ins damals sehr primitive Palästina. Ich hatte bei Heinrich Wertheimer ausgelernt; meine Stelle war daher weniger gefährdet.
Ich hatte einen Kollegen, Walter Zinnecker, der mit mir bei Heinrich Wertheimer die Lehrzeit absolviert hatte. Anfang 1933, auf dem Weg zur Bank, wurde er von SS-Leuten mit Hitlergruß begrüßt. Er erklärte mir dann, daß auch er in der SS sei und zeigte mir sein bisher verborgenes Abzeichen!! Ferner sagte er: „Rosenthal, wenn Du jemals Schwierigkeiten bekommen solltest, berufe Dich auf mich, und es wird Dir nichts geschehen!“
1933, an meinem 20. Geburtstag, ging ich mit meiner Mutter aufs Schiff nach Palästina – ich ebenfalls illegal, als Tourist mit einer dreimonatigen Aufenthaltsberechtigung. Meine Mutter erhielt aufgrund ihrer Kriegswitwenrente ein Einwandererzertifikat.
Das Land war äußerst primitiv – mein Mutter meinte, „wenn es doch wenigstens mal einen Baum gäbe, der etwas Schatten spenden würde…“ Überall waren Mücken, Kakerlaken etc. Ich wurde sehr von Flohstichen geplagt.
Den Illegal-Status behielten meine Schwester und ich bis 1948. Erst in jenem Jahr wurden wir automatisch Bürger des neugegründeten Staates Israel.
Zunächst arbeitete ich in der Wäscherei meiner Schwester und bei Technolloyd. Danach begann ich als Laufbursche bei SIEMENS in Tel Aviv, wo ich mich schließlich zum Stellvertretenden Chef emporgearbeitet habe.
1936, bei meinem ersten Urlaub in Israel (ich war damals bei Siemens), war ich auch in Jerusalem und lernte dort meine spätere Frau kennen, die 1935 mit der Jugend-Aliyah nach Palästina gekommen war, kennen. Wir heirateten im September 1940, also vor bald 60 Jahren.
Der deutsche Siemens-Chef war bis 1938 sehr okay. Während seines Urlaubs in Deutschland wurde ich mit seiner Vertretung beauftragt. Er kam Anfang 1939 zurück, als überzeugter Nazi. In Deutschland wird er sich einer Umschulung unterzogen haben! Die selbständige Siemens-Vertretung wurde geschlossen und an die Gebrüder Wagner (Templer) vergeben, die mich als Abteilungsleiter für Siemens übernahmen. Von Siemens habe ich keinerlei Abfindung erhalten!
Am 20. April 1939 (Hitler-Geburtstag) war die Firma geschlossen und ich hatte einen arbeitsfreien Tag!
Bei Kriegsausbruch begann die Internierung der Deutschen nach Sarona. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Holland und Belgien im Mai 1940 wurden sie dann nach Australien deportiert. Dadurch erhielt ich bei Gebr. Wagner zusätzliche Aufgaben, z.B. die Übernahme verschiedener Abteilungen (Bosch, Einkauf).
Bei dem Eintritt Italiens in den Krieg waren die Deutschen vom baldigen „Endsieg“ überzeugt und einer schrieb mir (auf Jiddisch!!): „Oif Wiedersehen in a Choidesh“ (Auf Wiedersehen in einem Monat)!
Während des Krieges übergab der „Custodian of Enemy Property“ die Firma Wagner an die Awad Eng. Co., eine arabische Firma in Jerusalem, die mich mit allen meinen Aufgaben übernahm.
Nach dem Tod des feinen, gebildeten und hochanständigen Stilo Awad übernahmen sein Bruder und Schwager die Firmenleitung. Der Bruder war ’ne Niete; der Schwager Michel El Issa war ehemaliger Offizier der Transjordan Frontier Force und ein Supernationalist, der mir einmal erklärte: „there will never be a Jewish State“.
Nachdem offiziell der Arab Boycot aller jüdischen Geschäfte und Waren etc. erklärt wurde und ich als Leiter der Abteilung Einkauf die Order erhielt, mich an diesen Boykott zu halten, habe ich natürlich Schluß gemacht und gekündigt. Ich habe dann verschiedene Handelsvertretungen.übernommen.
Bei der Unabhängigkeit des Staates Israel 1948 herrschte unbeschreiblich große Freude. Am nächsten Tag begann der Überfall sämtlicher arabischer Armeen. Auch ich wurde für ca. ein Jahr aktiver Infanterist. Ich habe dann erfahren, daß mein ehemaliger Chef, Michel El Issa, letzter Kommandant von Jaffa war und bei der Einnahme von Jaffa auf einem Boot geflohen ist.
Mit den Vertretungen israelischer technischer Produkte konnte ich meine Frau, unsere beiden Kinder und meine Mutter, die inzwischen natürlich ihre deutsche Rente nicht mehr erhielt, nur sehr notdürftig ernähren.
Wir hatten einen äußerst begabten Sohn, und unsere Verwandten in USA rieten uns daher, in die Vereinigten Staaten einzuwandern, wo wir bessere ökonomische Möglichkeiten für uns aber vor allem bessere Ausbildungschancen für unseren Sohn haben würden.
1956 sind wir also aus Israel ausgereist, um in die USA einzuwandern. Allerdings fuhren wir zuerst für einige Monate nach Deutschland, um zu versuchen, Näheres über das Schicksal meiner Schwiegereltern zu erfahren. Diese hatten in Remscheid gelebt und waren vor dem Ersten Weltkrieg als Teenager von Polen nach Deutschland gekommen. Die Nazis hatten sie ausgebürgert und in der „Polenaktion“ im Oktober 1938 nach Zboncin ins sogenannte Niemandsland verschleppt. Sie waren dann in einen Ort geflüchtet, in dem sie noch Verwandte hatten und der im später von den Sowjets besetzten Teil lag. Der Ort wurde dann beim Überfall auf die UdSSR sofort von den Deutschen überrannt. Bis dahin, also bis Juni 1941, hatten wir noch über das Rote Kreuz Nachrichten von den Schwiegereltern erhalten – aber dann nichts mehr – bis zum heutigen Tag.
Während dieser ca. 10 Monate, die wir 1956/57 in Deutschland verbrachten, haben wir beide Arbeit bei der USAFE ( United States Air Forces in Europe) gefunden.
1957 erfolgte dann die Einwanderung in die USA. Ich arbeitete als Traveling Salesman im gesamten Nordwesten der USA. Daheim war ich sehr wenig, da ich jeweils Touren von bis zu 3 Wochen hatte. Deshalb bin ich auf Drängen von Verwandten für diese ins Perlen-Geschäft nach Chicago gegangen, was jedoch ein Reinfall war! Nach dem Umzug nach New York arbeitete ich weiter als Perlenverkäufer, haßte den Job aber. 1965 übernahm ich daher eine Konzession für einen Ice Cream-Salon mit eigener Herstellung vor Ort. Dies war ein sehr gutes aber auch sehr anstrengendes Geschäft.
Inzwischen waren unsere beiden Kinder sehr gute Schüler; Sohn Hanan erhielt viele Stipendien und Preise, er studierte Physik am California Institute of Technology, machte sein Doktorat an der Columbia University und wurde schließlich Instructor Nuclear Physics an der Universität Yale.
Tochter Naomi studierte Biologie und bekam einen guten Job in Berkeley, Kalifornien. Nach einem Jahr faßte sie den Beschluß, zu reisen und die Welt zu sehen. Schließlich wurde sie Entwicklungshelferin in Afrika. Wir machten uns viele Sorgen, da sie Diabetikerin ist. Hanan wurde im Sommer 1971 von Yale zu einem Physiker-Kongreß nach Holland entsandt und nutzte die Gelegenheit zu einem Besuch in Israel bei meiner Mutter und Schwester und dem Bruder meiner Frau. Dort entschloß er sich, auch seine Schwester in Kenia zu besuchen, da er Gelegenheit zu einem günstigen Flug Tel-Aviv-Nairobi hatte.
Wir waren sehr glücklich, einen gemeinsamen, zufrieden stellenden Brief von unseren beiden Kindern zu erhalten, aber…
Am nächsten Tag erhielten wir telefonisch vom State Department in Washington die furchtbare Nachricht, daß unser Sohn in Kenia tödlich verunglückt sei!
Er war sehr naturliebend und hatte sich ein Auto gemietet, um mit seiner Schwester, die sich aber glücklicherweise nicht von ihrer Arbeit als Lehrerin freimachen konnte, in einen der Nationalparks zu fahren. Auf dem Weg dorthin ist er verunglückt.
Bis zum heutigen Tage, d.h. seit 1972, finden alljährlich an der Yale Universität (Physics Department) Gedenkveranstaltungen für Hanan statt.
Meine Frau und ich waren nach diesem Unglück nicht mehr in der Lage, unserer sehr anstrengenden Arbeit nachzugehen. Wir entschlossen uns, unser Geschäft mit großem Verlust zu verkaufen und das lange bestehende und von uns immer wieder abgelehnte Angebot anzunehmen, für die Ice Cream-Firma nach Deutschland zu gehen. Seit 1972 sind wir wieder hier.
Die Firma, die hier nicht reüssierte, schloß ihre Pforten 1976. Das Wiedereinleben in Deutschland war für uns anfänglich sehr schwer, speziell für meine Frau, deren Eltern während der Shoah ums Leben kamen. Inzwischen haben wir aber viele jüdische und nichtjüdische Freunde gewonnen, und ich bemühe mich, zur Verständigung zwischen Menschen verschiedener Religionen, Kulturen etc. beizutragen. Ich bin u.a. im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, des Leo-Baeck-Instituts und der Franz-Oppenheimer-Gesellschaft.
Alfred Rosenthal beschreibt seine assimilierte jüdische Familie als deutsch-patriotisch. Der Entschluss, Deutschland zu verlassen, fiel daher immens schwer, doch Bürger zweiter Klasse zu sein, konnten die Rosenthals verständlicherweise nicht lange ertragen. Schon 1933, kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, floh Alfred mit seiner Mutter in das britische Mandatsgebiet nach Palästina. Seine Schwester hatte die Flucht schon einige Monate zuvor unternommen. Nur Alfreds Mutter bekam ein Einwandererzertifikat aufgrund ihrer Kriegswitwenrente – ihr Mann war im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gefallen. Alfred und seine Schwester reisten mit Touristenvisen nach Palästina und blieben dort undokumentiert und „illegal“ bis zur Etablierung des Staates Israel 1948, als sie automatisch die Staatsbürgerschaft erhielten.
Nach mehreren Jahren in Israel entschied sich Alfred Rosenthal mit seiner Ehefrau, seinem Sohn und seiner Tochter in die Vereinigten Staaten aufgrund der viel gepriesenen ökonomischen Aufstiegschancen und der ausgezeichneten Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder weiterzuziehen. Insbesondere für Rosenthals Kinder wurden die Vereinigten Staaten eine Erfolgsgeschichte, bis ein Autounfall das Leben seines Sohn viel zu früh beendete. Die Rosenthals re-emigrierten aus Trauer zurück in die Heimat, nach Deutschland – eine Heimat, die sich aufgrund der Shoah und der unüberwindbaren Traumata für jüdische Deutsche für immer verändert hatte.