Die ersten Jahre in Deutschland als jüdischer „Kontingentflüchtling“

In diesem Interview berichtet Alexandra Sadownik, wie es ihrer Familie 1998 nach der Ankunft in Kiel erging. Mehrere Jahre haben sie mit drei Generationen in einer Sammelunterkunft leben und mit den deutschen Behörden und Institutionen klarkommen müssen. Alexandra erzählt auch, wie ihre Schwester ihr half, mit Heimweh umzugehen.

In Bleche (NRW) verbrachten viele jüdische Kontingentgeflüchtete und Spätaussiedler*innen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ihre ersten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. In einer leerstehenden Schule untergebracht, feierte die Mutter des Interviewers 1995 ihren 25 Geburtstag. © Privatbesitz des Interviewers

Wir sind 1998 in einer Sammelunterkunft gemeinsam mit anderen Juden und Jüdinnen und Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen in Kiel angekommen. Dort haben wir dann einige Jahre mit drei Generationen in einem Zimmer gelebt. Wir hätten vermutlich schon früher eine richtige Wohnung bekommen können, aber aufgrund sprachlicher Probleme haben wir das nicht so ganz verstanden. Meine Schwester musste mit ihren 13 schon bei den Behörden für meine Eltern übersetzen, denn sie hat in Usbekistan bereits angefangen Deutsch zu lernen.

Für mich war es damals gar nicht so schlimm wie für meine Eltern. Ich hatte aber trotzdem oft Heimweh. Eines Tages hatte ich Windpocken und meine Schwester hat mir dann ein Tamagotchi 11Das Tamagotchi ist ein aus Japan stammendes Elektrospielzeug, mit dem ein Haustier digital simuliert wird. als Symbol unseres früheren Lebens geschenkt. Denn in Usbekistan hatten wir eine Terrasse, wo alle Nachbarskinder zusammenkamen, um mit dem einen Tamagotchi gemeinsam zu spielen, das unsere gesamte Nachbarschaft hatte. Das hat mir Trost gespendet.

Für meine Schwester war die Ankunft in Deutschland schwieriger. In Usbekistan hatte sie lauter russische Fünfen, was hier der Note Eins entspricht. Als sie hier ankam, erhielt sie eine Hauptschulempfehlung, um so Deutsch zu lernen. Dort hat sie sich aber super unterfordert gefühlt. Trotz Sprachbarrieren hat sie sich zum Beispiel im Matheunterricht einfach nur gelangweilt. Und dann musste mein Vater wirklich eingreifen. Mit seinem gebrochenen Deutsch ist er persönlich mit meiner Schwester an ein Gymnasium gegangen und hat ihnen zu verstehen gegeben, dass seine Tochter unbedingt auf ein Gymnasium muss, sonst würde sie die Motivation verlieren sich überhaupt weiterzubilden. Und dann wurde sie angenommen. Aber für sie war das schon schwer mit dem Deutschlernen und auch Freundefinden. Da unterscheiden wir uns auch. Sie hat eher russische Freunde und eine russische Clique und ich hatte nicht so den Bezug zu russischsprachigen Kindern und Jugendlichen außerhalb der jüdischen Ferienlager. 22Jüdische Ferienlager – auf hebräisch Machanot genannt – finden zweimal im Jahr während den Sommer- und Winterferien statt. Diese Ferienlager sind wichtige Orte für gerade Jüd*innen aus der Sowjetunion, um dort in einem sicheren Rahmen ihre jüdische Identität zu entdecken und zu zelebrieren. Dort habe ich gleichgesinnte getroffen die einen ähnlichen Hintergrund hatten wie ich. Das fand ich total schön, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen über Schwierigkeiten in Deutschland. Bei meinen Eltern war eine hohe Last. Ja, eine hohe Last hat da auf sie gewirkt. Und das kann ich auch erst so im Nachhinein sagen. Als Kind habe ich davon nicht so viel mitbekommen, dass das so eine Belastung war und sie immer wieder behördliche Dinge klären mussten.

    Fußnoten

  • 1Das Tamagotchi ist ein aus Japan stammendes Elektrospielzeug, mit dem ein Haustier digital simuliert wird.
  • 2Jüdische Ferienlager – auf hebräisch Machanot genannt – finden zweimal im Jahr während den Sommer- und Winterferien statt. Diese Ferienlager sind wichtige Orte für gerade Jüd*innen aus der Sowjetunion, um dort in einem sicheren Rahmen ihre jüdische Identität zu entdecken und zu zelebrieren.

Alexandra Sadownik 11Nachname geändert wurde 1993 in Usbekistan geboren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, auf Andrang des Zentralrats der Juden in Deutschland und unterstützt durch ostdeutsche Politiker*innen, errichtete die Bundesrepublik Deutschland ein Aufnahmekontingent für Jüdinnen*Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dies geschah, um die schwindende Zahl der in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden nach oben zu heben und gilt als Versuch der Bundesrepublik Deutschland, mit der Shoah abzuschließen. Seit den 1990ern migrierten 200.000 Jüdinnen*Juden und ihre Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Heute machen sie 90 Prozent hier lebenden Jüdinnen*Juden aus. Auch Alexandra migrierte mit ihrer Familie 1998 nach Deutschland und lebte einige Jahre in einer Aufnahmeunterkunft in Kiel. Heute ist sie ist angehende Lehrerin für Deutsch und Pädagogik an Gymnasien und Gesamtschulen mit dem Schwerpunkten Mehrsprachigkeit und Inklusion. Seit vielen Jahren engagiert sie sich gesellschaftspolitisch in der Jugend- und Studierendenarbeit und trägt im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung, der Jüdischen Hochschulgruppe, dem NS Dokumentationszentrum (Fachstelle [m²] miteinander mittendrin) und weiteren Institutionen zum interkulturellen und interreligiösen Austausch bei.

In diesem Interview berichtet Alexandra Sadownik, wie es ihrer Familie 1998 nach der Ankunft in Kiel erging.

    Fußnoten

  • 1Nachname geändert

Das Interview führte Daniel Heinz am 26. März 2021 mit Alexandra Sadownik über Zoom im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv. Daniel und Alexandra lernten sich 2016 im Rahmen eines Jugendprojektes der Botschaft des Staates Israels in Berlin kennen. Beide verbindet, dass ihre Eltern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zentralasien in den 1990ern nach Deutschland migrierten.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.