Jüdische Identität in Deutschland

In diesem Interview berichtet Alexandra Sadownik, was es für sie bedeutet, eine Jüdin in Deutschland zu sein und wo sie ihre jüdische Identität lebt.

In Bleche (NRW) verbrachten viele jüdische Kontingentgeflüchtete und Spätaussiedler*innen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ihre ersten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. In einer leerstehenden Schule untergebracht, feierte die Mutter des Interviewers 1995 ihren 25 Geburtstag. © Privatbesitz des Interviewers

Wenn ich gefragt wurde, dann habe ich gesagt, dass ich russischsprachig bin und einen russischen Hintergrund habe und meine jüdische Identität quasi gar nicht so in den Vordergrund gebracht. Mein engster Freundeskreis wusste, dass ich auf jüdische Ferienfreizeiten fahre oder dann später als Jugendliche auch selber mich engagiert habe als Jugendleiterin. So im Nachhinein reflektiere ich viel über meine eigene Schulzeit. Ich war auf einer christlichen Schule. Dort war ich dann im evangelischen Unterricht und das war auch total spannend, weil ich so quasi andere religiöse Ansichten kennengelernt habe. Gleichzeitig war das aber wie so ein unbewusstes Doppelleben. Denn gleichzeitig bin ich nach der Schule in das jüdische Jugendzentrum gegangen. Das war dann wirklich wie zwei Welten. Einerseits mein Schulalltag mit Kirchenbesuchen und dann in den Ferienlagern 11Jüdische Ferienlager – auf hebräisch Machanot genannt – finden zweimal im Jahr während der Sommer- und Winterferien statt. Diese Ferienlager sind wichtige Orte für gerade Jüd*innen aus der Sowjetunion, um dort in einem sicheren Rahmen ihre jüdische Identität zu entdecken und zu zelebrieren. mein sehr jüdischer Fokus, dem ich mich dann gewidmet habe.

Aber ich muss auch sagen, dass ich zum Judentum erst in Deutschland gekommen bin. Meine Eltern sind ja auch nicht damit aufgewachsen. In der Sowjetunion waren wir alle säkular. Hätte meine große Schwester nicht so eine Initiative gezeigt und mich dann bei entsprechenden Ferienfreizeiten angemeldet, hätte ich diese Seite an mir nicht entdeckt. Ich bin ihr super dankbar dafür, dass sie mich in diese Gemeinschaft eingeführt hat. Ich habe so zu meinen Wurzeln gefunden, zu meiner Identität und das hat mich sehr geprägt. Für meinen Papa ist das Judentum zum Beispiel keine Religion. Er sagt von sich, er sei Atheist, aber gleichzeitig Jude. Das eine schließt das andere nicht aus. Für ihn ist das Judentum eine Kulturzugehörigkeit und gehört zu seiner Identität. Dort warst du nicht jüdisch als Religion, sondern es war deine Identität. Es stand auf unseren Pässen. 22Die Sowjetunion verstand sich zwar als Vielvölkerstaat, jedoch wiesen die Ausweise national-ethnische Zugehörigkeiten als fünften Punkt auf und diese wurden über den Vater vererbt. So konnte eine Person zwar die sowjet-russische Staatsangehörigkeit haben, war jedoch im Personalausweis als Ukrainer*in, Tatar*in, Jüdin*Jude oder Deutsche*r kenntlich. In der Sowjetunion wurden ethnische Russ*innen bevorzugt und durch den national-ethnischen Vermerk im Ausweis von anderen Bürger*innen der Sowjetunion getrennt. Deswegen kannst du dich auch nicht vom Judentum abwenden, es ist deine Identität.

Für mich ist das Judentum also quasi ein kultureller Bezug. Ich lebe das Judentum dahingehend, dass ich dieses Netzwerk pflege und weniger als dass ich mich an bestimmte Regeln oder Essgewohnheiten halte. Weil damit bin ich nicht aufgewachsen, sondern mit der Gemeinschaft.

    Fußnoten

  • 1Jüdische Ferienlager – auf hebräisch Machanot genannt – finden zweimal im Jahr während der Sommer- und Winterferien statt. Diese Ferienlager sind wichtige Orte für gerade Jüd*innen aus der Sowjetunion, um dort in einem sicheren Rahmen ihre jüdische Identität zu entdecken und zu zelebrieren.
  • 2Die Sowjetunion verstand sich zwar als Vielvölkerstaat, jedoch wiesen die Ausweise national-ethnische Zugehörigkeiten als fünften Punkt auf und diese wurden über den Vater vererbt. So konnte eine Person zwar die sowjet-russische Staatsangehörigkeit haben, war jedoch im Personalausweis als Ukrainer*in, Tatar*in, Jüdin*Jude oder Deutsche*r kenntlich. In der Sowjetunion wurden ethnische Russ*innen bevorzugt und durch den national-ethnischen Vermerk im Ausweis von anderen Bürger*innen der Sowjetunion getrennt.

Alexandra Sadownik 11Nachname geändert wurde 1993 in Usbekistan geboren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, auf Andrang des Zentralrats der Juden in Deutschland und unterstützt durch ostdeutsche Politiker*innen, errichtete die Bundesrepublik Deutschland ein Aufnahmekontingent für Jüdinnen*Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dies geschah, um die schwindende Zahl der in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden nach oben zu heben und gilt als Versuch der Bundesrepublik Deutschland, mit der Shoah abzuschließen. Seit den 1990ern migrierten 200.000 Jüdinnen*Juden und ihre Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Heute machen sie 90 Prozent hier lebenden Jüdinnen*Juden aus. Auch Alexandra migrierte mit ihrer Familie 1998 nach Deutschland und lebte einige Jahre in einer Aufnahmeunterkunft in Kiel. Heute ist sie ist angehende Lehrerin für Deutsch und Pädagogik an Gymnasien und Gesamtschulen mit dem Schwerpunkten Mehrsprachigkeit und Inklusion. Seit vielen Jahren engagiert sie sich gesellschaftspolitisch in der Jugend- und Studierendenarbeit und trägt im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung, der Jüdischen Hochschulgruppe, dem NS Dokumentationszentrum (Fachstelle [m²] miteinander mittendrin) und weiteren Institutionen zum interkulturellen und interreligiösen Austausch bei.

In diesem Interview berichtet Alexandra Sadownik was es für sie bedeutet, eine Jüdin in Deutschland zu sein und wo sie ihre jüdische Identität lebt.

    Fußnoten

  • 1Nachname geändert

Das Interview führte Daniel Heinz am 26. März 2021 mit Alexandra Sadownik über Zoom im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv. Daniel und Alexandra lernten sich 2016 im Rahmen eines Jugendprojektes der Botschaft des Staates Israels in Berlin kennen. Beide verbindet, dass ihre Eltern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zentralasien in den 1990ern nach Deutschland migrierten.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.