Von Zentralasien nach Deutschland – jüdische Kontingentflucht aus der ehemaligen Sowjetunion

In diesem Interview berichtet Alexandra Sadownik, warum ihre Familie 1998 Usbekistan verließ und nach Deutschland migrierte und welchen Problemen sie ausgesetzt waren.

Ein klassisches Vorstadthaus in Karaganda (Kasachstan). Die Großeltern des Interviewers errichtete es in den 70ern und schossen das Foto 1993 vor ihrer Migration in die Bundesrepublik Deutschland. © Privatbesitz des Interviewers

Ich würde mich als eine in Deutschland aufgewachsene Jüdin, aber auch Russin bezeichnen. Meine Großeltern haben ihre Wurzeln in der Ukraine. Sie mussten aufgrund des Holodomor 11Holodomor– vom ukrainischen Голодомо́р (Tot durch Hunger) – beschreibt eine durch die Sowjetunion herbeigeführte Hungersnot. Zwischen 1932 und 1933 starben zehn Prozent der Bevölkerung in der Ukraine. Durch eine gesteuerte Lebensmittelknappheit versuchte Joseph Stalin die Unabhängigkeitsbewegung der Ukraine so zu vernichten. Seit 2006 trauert die ukrainische Bevölkerung am vierten Samstag jeden Novembers um die Opfer des als Völkermordes klassifizierten Holodomor. nach Zentralasien fliehen. Meiner Mutter wurde so in Tadschikistan und mein Vater in Usbekistan geboren. In der Sowjetunion waren wir aber immer Juden. Auf unseren Pässen stand nicht Usbeke, Tadschike oder Russe, sondern Jude. Nach dem Zerfall der Sowjetunion befürchteten meine Eltern im mehrheitlich muslimischen Usbekistan einen sich verfestigen Antisemitismus. Also gab es eine große Auswanderungswelle von Juden und Jüdinnen. Viele meiner Verwandten sind nach Israel oder den USA migriert. Für die USA war es für uns zu spät, also entschieden wir uns für Deutschland, weil Israel zu dem Zeitpunkt immer noch im Aufbau war. Meine Eltern sahen in Deutschland bessere Chancen für uns Kinder was Zugang zu Bildung angeht aber auch aufgrund der gesundheitlichen Versorgung unserer Großeltern. Also im Endeffekt kann ich sagen, dass meine Eltern das sehr für uns Kinder gemacht haben. Weil mein Vater hatte in Usbekistan eine Baufirma und meine Mutter hatte ein Uni-Diplom. Hier in Deutschland ist das rote Diplom 22Die Bildungsabschlüsse in der ehemaligen Sowjetunion – in Deutschland als rote Diplome fremdbezeichnet – wurden nicht von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Folglich arbeiteten viele Migrant*innen aus den Nachfolgestaaten im deutschen Niedriglohnsektor. Frauen häufig als undokumentierte Reinigungskräfte und Männer im Baugewerbe. nichts wert, weswegen sie hier putzen ging, damit wir Kinder aufsteigen konnten. Ich finde das heute sehr mutig und habe den größten Respekt und die tiefste Dankbarkeit.

    Fußnoten

  • 1Holodomor– vom ukrainischen Голодомо́р (Tot durch Hunger) – beschreibt eine durch die Sowjetunion herbeigeführte Hungersnot. Zwischen 1932 und 1933 starben zehn Prozent der Bevölkerung in der Ukraine. Durch eine gesteuerte Lebensmittelknappheit versuchte Joseph Stalin die Unabhängigkeitsbewegung der Ukraine so zu vernichten. Seit 2006 trauert die ukrainische Bevölkerung am vierten Samstag jeden Novembers um die Opfer des als Völkermordes klassifizierten Holodomor.
  • 2Die Bildungsabschlüsse in der ehemaligen Sowjetunion – in Deutschland als rote Diplome fremdbezeichnet – wurden nicht von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Folglich arbeiteten viele Migrant*innen aus den Nachfolgestaaten im deutschen Niedriglohnsektor. Frauen häufig als undokumentierte Reinigungskräfte und Männer im Baugewerbe.

Alexandra Sadownik 11Nachname geändert wurde 1993 in Usbekistan geboren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, auf Andrang des Zentralrats der Juden in Deutschland und unterstützt durch ostdeutsche Politiker*innen, errichtete die Bundesrepublik Deutschland ein Aufnahmekontingent für Jüdinnen*Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dies geschah, um die schwindende Zahl der in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden nach oben zu heben und gilt als Versuch der Bundesrepublik Deutschland, mit der Shoah abzuschließen. Seit den 1990ern migrierten 200.000 Jüdinnen*Juden und ihre Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Heute machen sie 90 Prozent hier lebenden Jüdinnen*Juden aus. Auch Alexandra migrierte mit ihrer Familie 1998 nach Deutschland und lebte einige Jahre in einer Aufnahmeunterkunft in Kiel. Heute ist sie ist angehende Lehrerin für Deutsch und Pädagogik an Gymnasien und Gesamtschulen mit dem Schwerpunkten Mehrsprachigkeit und Inklusion. Seit vielen Jahren engagiert sie sich gesellschaftspolitisch in der Jugend- und Studierendenarbeit und trägt im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung, der Jüdischen Hochschulgruppe, dem NS Dokumentationszentrum (Fachstelle [m²] miteinander mittendrin) und weiteren Institutionen zum interkulturellen und interreligiösen Austausch bei.

In dem Interviewausschnitt beschreibt Alexandra, was es für sie bedeutet, eine in Deutschland aufgewachsene Jüdin aus der Sowjetunion zu sein. Sie berichtet über ihre ersten Jahre in der Aufnahmeunterkunft, ihre Schulzeit und was für sie Heimat bedeutet.

    Fußnoten

  • 1Nachname geändert

Das Interview führte Daniel Heinz am 26. März 2021 mit Alexandra Sadownik über Zoom im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv. Daniel und Alexandra lernten sich 2016 im Rahmen eines Jugendprojektes der Botschaft des Staates Israels in Berlin kennen. Beide verbindet, dass ihre Eltern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zentralasien in den 1990ern nach Deutschland migrierten.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.