Prof. Dr. E. Auerbach
Istanbul-Bebek
Arslanli Konak
Dr. Martin Hellweg
Lindenstr. 17
Fulda
U.S. Zone Hessen
Germany
16.5.[19]47
Lieber Hellweg,
Vielen Dank für Ihren Brief vom 19. April; der frühere, den Sie erwähnen, muss verloren gegangen sein. Mir ist es vollkommen klar, wie schwer das Leben dort geworden sein muss, und man muss nur hoffen, dass es allmählich etwas besser wird. An sich sind die Aussichten dazu gar nicht so schlecht, weil ja alle Welt das grösste Interesse daran hat. Aber es ist offenbar viel leichter einen Krieg zu organisieren als nachher einen halbwegs friedlichen Zustand.
Inzwischen haben sich meine Absichten insofern geklärt, als ich habe einsehen müssen, dass ich im Augenblick nicht nach Deutschland zurückkommen kann. Es haben sich Greifswald, Halle und das ganz zerstörte Münster geboten – ich fürchte, die Arbeitsbedingungen in allen drei Orten wären nichts für mich. In Marburg, was allenfalls in Frage käme, ist die Lage nicht geklärt, und käme jedenfalls nicht sofort in Frage. So habe ich mich entschlossen[,] vorläufig einmal nach USA zu gehen, und will, wenn nichts dazwischen kommt, in einigen Monaten aufbrechen. Es kann aber noch allerhand dazwischen kommen, und es ist jedenfalls ein etwas gewagtes Unternehmen, da ich kaum Geld habe, und mir eine Stellung erst dort werde suchen müssen. Immerhin raten meine Freunde dort, es zu wagen. Hier will ich jedenfalls fort, wenn es irgend geht. Dabei ist es ganz behaglich; aber 11 Jahre Türkei ist reichlich genug. Und man erreicht hier nichts; die Dinge zerbröckeln einem unter den Händen.
Wegen der türkischen Erziehungslage können Sie sich direkt an den Unterrichts-Minister wenden, einen grossen Deutschenfreund – dementsprechend politisch eingestellt – der sich sehr für derartige Dinge interessiert. Adresse Sayin Bay Vekil Resad Semseddin Sirer , Milli Egitim Bakanligi , Ankara; der Brief kann selbst deutsch geschrieben sein, er kann deutsch recht gut. Ausserdem oder statt dessen könnten Sie auch unserem Pädagogen schreiben, einem recht intelligenten Mann, Profesör Sadrettin Celal Antel , Edebiyat Fakültesi, Istanbul-Topkapi; an diesen französisch. Die Worte, die jewils den Namen bilden, habe ich unterstrichen. Ich selbst möchte nichts über solche Gegenstände schreiben; ich verstehe nicht viel davon, lüge auch nicht gerne ohne dringende Not, und was ich für die Wahrheit halte, könnte ich nicht öffentlich äussern. Sie dürfen sich nicht vorstellen, dass hier irgend eine Reform so leicht durchzuführen wäre; das Übergangsstadium hat eigentlich vorläufig nichts erzeugt als ein Vacuum. Ich will nicht sagen, dass die Dinge auf lange Sicht sich nicht formen könnten; aber vor der hand herrschen verantwortungslose, dilettantische und fortwährend wieder abgebrochene Experimente. Ich kann allerdings nur meinen engsten Sektor aus eigener Anschauung beurteilen. Ein Beispiel: da die Schulen es nicht fertig bringen eine Fremdsprache zu lehren, und die Studenten doch wenigstens e i n e können müssen, um irgendwie die Fortschritte der Wissenschaft aus einer anderen Quelle zu beziehen als aus den Kollegheften, so hat man vor 14 Jahren eine Sprachschule an der Universität eingerichtet, ein Unding, an der Studenten aller Fakultäten, abends, entweder englisch, französisch oder deutsch lernen müssen. Ich war jahrelang Direktor, aber nur auf dem Papier; denn da die Kurse an den verschiedensten Orten der Stadt, von den verschiedenst vorgebildeten Personen, nach allen möglichen Methoden gegeben wurden, da jedes Jahr das Lehrbuch, dessen Herstellung noch Spitzer durchgesetzt hatte, vergriffen war (für französisch – für englisch und deutsch benutzt man alles mögliche) – so war eine wirksame Leitung, eine einheitliche Planung, eine gemeinsame Atmosphäre nicht zu erreichen. Ausser[dem] versuchten die Studenten zu schwänzen, und wenn sie kamen, waren sie müde und unlustig. Schliesslich erlaubte man mir zurückzutreten; ich setzte noch durch, dass die gab es nichts mehr als Uebersetzen – beibehalten werden sollte (im Prinzip natürlich nur, die Hälfte der Lehrer ist ganz unfähig dazu) und daß die Studenten sich nur dann zu ihrem Fachexamen melden dürfen, wenn sie das Sprachexamen bestanden haben. Auch das half nicht viel, denn das Sprachexamen ist im Grunde eine Komödie, aber etwas half es doch. Natürlich war diese Massnahme sehr unpopulär. Jetzt soll sie wieder abgeschafft werden. Bei dieser Gelegenheit gab ein Professor der Uni einer Zeitung ein Interview, in dem er sagte: „die Lehrmethoden der Sprachschule müssten reformiert werden; man wende dort die phonetische Methode an, welche russisch sei und von allen zivilisierten Nationen abgelehnt werde.“ Der Mann verwechselt die direkte Methode mit der phonetischen (die natürlich nicht angewendet wird, weil es uns auf Aussprache nicht ankommt) – er will dieser Methode was anhängen – und findet auch prompt, was dem Tagesgeschmack entspricht. Richtigstellungen sind hoffnungslos. Niemand hat irgend ein unabhängiges Urteil über wissenschaftliche Fragen, niemand liegt überhaupt irgend etwas daran. Aber das Leben selbst, wenn man zynisch genug ist die Dinge ruhig laufen zu lassen, ist sehr behaglich.
Das Buch Webers habe ich gesehen, es ist in seiner Art imponierend, interessiert mich aber nicht; Jaspers hat mich nie zu mehr bewegen können als zu Respekt; Heidegger ist ein furchtbarer Kerl, aber er hat wenigstens Substanz. Ich habe Ihnen heut ein paar Sonderdrucke geschickt, aber alles ältere, um 1940 geschriebene Sachen. Mein neues Buch, Mimesis , in Bern erschienen, darf noch nicht nach Deutschland; Krauss , Curtius , Vossler , Schalk haben Exemplare; vielleicht können sie das von Krauss einmal bekommen. Was ich sonst produziert habe, ist sehr speziell. Ich will auch versuchen[,] Ihnen aus USA durch meinen Sohn ein Paket zu schicken; ich täte gern mehr, habe aber wenig Geld und zu viele Freunde[,] die Not leiden. Uebrigens will ich noch sagen, dass Sartre jedenfalls ein Bombentalent hat; sehen Sie doch einmal zu, ob Sie „Le Sursis“ kriegen können, den zweiten Band eines grossen Romans; der erste Band, Le temps de sagesse oder so ähnlich, ist weniger gut.
Schreiben Sie bald wieder, behalten Sie den Kopf oben, grüssen Sie die Ihrigen, auch von meiner Frau. Stets Ihr
Erich Auerbach
Erich Auerbach war deutscher Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie für unzählige andere wurde seine Laufbahn in Deutschland aufgrund des am 7. April 1933 ratifizierten, rassistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,“ das sowohl auf die Entfernung jüdischer Beamter als auch auf die Entlassung politisch Andersdenkender zielte, vorzeitig beendet. Da bei ihm das sogenannte Frontkämpferprivileg griff und er zusätzlich 1934 sogar einen “Treueid deutscher Beamter” auf Adolf Hitler schwor, verlor er seinen Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Marburg “erst” Ende 1935. Mehr als absehbar kontaktierte er jedoch schon im Verlauf des Jahres 1935 Kollegen in Italien, England und anderen Orten, um eine Anschlussstelle, selbst weit unter dem Rang des Professors, zu finden. Dank der Vermittlung der 1933 gegründeten konfessionsübergreifenden und antirassistischen Selbsthilfeorganisation “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland,” die ab 1933 schwerpunktmäßig in die Türkei vermittelte, folgte er schließlich dem Ruf an die İstanbul Üniversitesi. Letztere war 1933 im Rahmen des kemalistischen Westernisierungs- und Modernisierungsprogramms gegründet worden und hatte u.a. die Anwerbung von Expert*innen zur Aufgabe. Auf diesem Wege emigrierten mehrere hundert deutsche Intellektuelle und ihre Familien den Auerbachs gleich in die Türkei, vor allem in die städtische Zentren Istanbul und Ankara, und wurden dort in die Arbeit der Universitäten und Ministerien eingebunden. Da Auerbachs Hoffnung auf eine Rückkehr auf den Lehrstuhl einer deutschen Universität unerfüllt blieb, emigrierte er 1947 von der Türkei in die USA, wo er seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte. Er zählt noch heute zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches. Sein in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenes Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ gehört zu den grundlegenden Werken der deutschen Romanistik.
Nach Kriegsende nahm Auerbach den Kontakt zu Martin Hellweg (1908–?) wieder auf. Hellweg war zu Marburger Zeiten Auerbachs Student und ab Auerbachs Amtsenthebung im Oktober 1935 Assistent des Nachfolgers und Widerstandsaktivisten Werner Krauss. Ein auf Vertrauen fußendes Verhältnis verband Auerbach und Hellweg. Im Auftrag seines Mentors besuchte Hellweg beispielsweise Ende September 1935 den in Montparnasse, 23, rue Bénard, unter ärmlichen Bedingungen lebenden Kulturkritiker Walter Benjamin, der wie viele andere 1933 vor den Nationalsozialisten ins Pariser Exil geflohen war, um letzterem als vertraulicher Bote von Auerbach Geld zu übergeben. Aufgrund der nationalsozialistischen Ausrichtung der Marburger Romanistik nach Auerbachs Flucht verzichtete Hellweg auf eine Universitätskarriere und arbeitete als Oberschullehrer. Im September wurde er infolge des deutschen Angriffs auf Polen zur Wehrmacht einberufen und 1941 aufgrund seiner Russischkenntnisse in eine Nachrichteneinheit an die Ostfront versetzt. 1945 kehrte Hellweg nach kurzer englischer Kriegsgefangenschaft wieder nach Fulda zurück, wo er seine Lehrtätigkeit am Gymnasium wieder aufnahm. Erst in den frühen 1970er Jahren war es ihm vergönnt, an seine frühere Universitätskarriere an der Universität Freiburg i. Br. anzuknüpfen, wo er Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts sowie Anglistik unterrichtete.
Briefe und Anmerkungen aus Martin Vialon (Hrsg.), Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939–1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar. Basel: Francke, 1997. S. 77–93.