Das Portal zur Stärke. Eine Reise der Entschlossenheit, Stille und Dankbarkeit

Mostafa Jamalzada war 10 Jahre alt als er zusammen mit seiner afghanischen Familie von Iran nach Europa aufbrach. Er schildert seine Erlebnisse auf der Flucht durch die Türkei, die Überfahrt nach Griechenland und seine Grenzerfahrungen sehr detailgenau aus der Persepktive eines kleinen Jungen. Aus den Erkenntnissen, die er aus dieser Reise gezogen hat, entwickelt er Grundsätze für sein Leben.

Mostafa Jamalzada © privates Foto

Das Portal zur Stärke. Eine Reise der Entschlossenheit, Stille und Dankbarkeit

Vorwort

Als kleiner Junge war ich erst zehn Jahre alt, als meine Familie und ich uns auf eine außergewöhnliche Reise begaben. Ursprünglich aus Afghanistan stammend, hatten meine Eltern 17 Jahre im Iran gelebt, doch nun war es an der Zeit, unser Zuhause zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen.

Es war das Jahr 2015, als wir uns auf den Weg machten. Die bevorstehende Reise war mit Unsicherheit und Gefahr verbunden, doch ich als kleiner Junge konnte die ganze Tragweite der Ereignisse nicht erfassen. Stattdessen tauchte ich ein in meine eigene Fantasiewelt, eine Welt voller Abenteuer und aufregender Entdeckungen.

Diese Geschichte basiert auf drei für mich wichtigsten Grundsätze, die ich durch die Erfahrungen, die ich bis zum heutigen Leben gesammelt habe, erkannt habe und nun mit euch teile. In meiner Erzählung erfahrt ihr von den Augenblicken des Zweifels, in denen die Dunkelheit bedrohlich nahe scheint, aber auch von den triumphalen Augenblicken, in denen ich das Licht finde, das mich leitet. Es ist eine Geschichte, die den menschlichen Geist in seiner ganzen Pracht und Zerbrechlichkeit umfasst, eine Ode an den Mut, die Hoffnung und die Entschlossenheit, die in jedem von uns schlummert.

Die Grundsätze, die in meiner Geschichte hervortreten, sind keine bloßen Worte, sondern Leitsterne, die für mich auf meiner Reise Orientierung bieten. Sie lehren, dass der Weg zur Stärke nicht immer geradlinig ist, sondern von Widrigkeiten gesäumt sein kann, die nur darauf warten, überwunden zu werden. Doch sie erinnern auch daran, dass es in unserer Macht liegt, unsere Ängste zu überwinden, unsere Gedanken zu lenken und unsere Träume zu verwirklichen.

Erster Grundsatz: Heul leise

Die Reise von Iran in die Türkei war lang und voller Herausforderungen. In einem großen Transporter erreichten meine Familie und ich die Grenze zur Türkei. Ab da ging es mit dem Auto nicht mehr weiter. Wir mussten unsere Reise zu Fuß fortsetzen. In dieser dunklen Nacht war die Unsicherheit allgegenwärtig, und ich konnte spüren, wie die Anspannung in der Luft lag.

Wir waren eine Gruppe von etwa 60 Menschen, Familien und Einzelpersonen, und hatten einen langen Weg vor uns liegen, um die Grenze zu überqueren. Unsere Schritte wurden von den schattigen Berggipfeln umrahmt. Wir hatten keine Ahnung, wie lange wir gehen mussten, aber wir wussten, dass jeder Schritt uns näher an die Hoffnung auf ein besseres Leben bringen würde.

Stundenlang setzten wir unseren Weg fort, Berg für Berg überquerend. In regelmäßigen Abständen legten wir zehnminütige Pausen ein, um etwas zu trinken und uns auszuruhen. Die Erschöpfung machte sich bemerkbar, während wir stetig voranschritten. Schließlich erkannten wir, dass wir so nicht weiterkommen konnten. Wir ließen einige Sachen wie Schlafsäcke, Kissen und einige Kleidungsstücke zurück. Schon der Anfang der Reise fiel uns schwer, aber aufgeben, war keine Option für uns, denn unser Überleben stand auf dem Spiel.

Stunden vergingen, bis wir schließlich einen Berg erreichten, der so hoch war, dass seine Spitze nicht zu sehen war. Zudem war er äußerst steil. Der Rucksack auf meinen Schultern schien mit jeder Stunde schwerer zu werden. Die Erschöpfung überkam mich. Ich legte mich auf den Boden, um ein kurzes Nickerchen zu machen. Menschen befanden sich über mir und hinter mir. Mein Blick richtete sich zur Bergspitze und meine Augen schlossen sich bald darauf.

Aus diesem Schlaf wurde ich jedoch abrupt gerissen, als plötzlich etwas auf meinen Kopf fiel. Benommen öffnete ich meine Augen und sah einen Stein, etwa halb so groß wie mein Kopf, der mich getroffen hatte. Der Schmerz durchfuhr mich, und ich hielt meine schmerzende Kopfstelle, während ich lautlos schrie. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass ein Paar einige Meter über mir mich verzweifelt ansah. Die Frau schien den Stein versehentlich losgetreten zu haben, als sie den Berg hinaufging. Tränen stiegen in meine Augen, doch gleichzeitig empfand ich Dankbarkeit dafür, dass ich meine Kapuze aufhatte, die den Aufprall des Steins abgefedert hatte. Ein Gefühl von Wunder durchströmte mich, da ich unverletzt geblieben war.

In diesem Moment suchte ich nach meinen Eltern. Mein Vater trug eine schwere Tasche und hatte zusätzlich meine 4-jährige Schwester auf seinen Schultern. Meine Mutter trug ebenfalls eine große Tasche und hielt die Hand meiner kleinen Cousine. Als ich sie sah, schluckte ich die Tränen runter und wusste, dass ich nicht schwach sein durfte.

Ich verstand, dass meine Tränen nur eine Last für andere sein würden. Ich wusste, dass ich selbst für meine Fehler verantwortlich war, also schluckte ich meine Emotionen hinunter, stand auf und dankte dem lieben Gott für meine Gesundheit.

Viele haben nur das vor Augen, was sie nicht haben. Bis heute sehe ich Menschen, wie sie bei jedem kleinen oder großen Hindernis in einen Strudel aus Vorwürfen gegen Gott und die Welt geraten. Sie lassen sich in die Opferrolle fallen und verweilen in Selbstmitleid angesichts der Widrigkeiten, die ihnen widerfahren sind. Unbemerkt rutschen sie immer tiefer in diese Opfermentalität, denn der Mensch neigt dazu, seine Gewohnheiten zu kultivieren. So kann der Ärger über ein Ereignis, den man nur fünf Minuten täglich zulässt, im Verlauf eines Monats oder eines Jahres zu einer tiefsitzenden depressiven Phase führen, die sich auf psychischer und physischer Ebene manifestiert.

Deshalb ist es ratsamer, so bin ich überzeugt, stets Dankbarkeit für das zu empfinden, was man bereits besitzt, und sich von negativen Gedanken und sogar negativen Menschen fernzuhalten. Anstatt zu heulen, wie im ersten Grundsatz von „12 Rules for Life“ von Dr. Jordan Peterson beschrieben „Stand up straight with your shoulders back.“

Die Reise für uns war noch lange nicht vorbei, und ich wusste, dass ich meine Stärke bewahren musste, um meine Familie und mich sicher ans Ziel zu bringen.

Und so setzten wir unseren beschwerlichen Weg fort, Schritt für Schritt, immer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben im Herzen. Die Türkei war erst nur der Anfang unserer Reise, doch ich hatte bereits eine der wichtigsten Lektionen gelernt: „Heul leise.“

Zweiter Grundsatz: Selbst wenn die Welt untergeht, verzichte nicht auf deine Nickerchen

Endlich angekommen in Istanbul, versteckten wir uns für einige Tage in einem Haus, bevor wir weiterfahren konnten, um Izmir, die Grenze zu erreichen und von dort aus über das Wasser nach Griechenland zu fahren.

Wir wurden in schwarzen Wagen bis nach Izmir am Meer gefahren und mussten dort im Wald übernachten, bevor wir am nächsten Tag unsere Reise über das Wasser fortsetzen konnten. Ca. einhundert Menschen warteten am Wasser. Die Angst von der türkischen Polizei erwischt zu werden, war groß, aber noch größer war die Angst vor dem Ertrinken im dunklen Meer, was nicht mal eine Seltenheit war. Täglich sahen wir in den sozialen Medien, wie viele Menschen auf dieser gefährlichen Route ihr Leben verloren.

Wir übernachteten im Wald und hatten mit gnadenlosen Mücken zu kämpfen. Morgens machten wir Kinder uns auf die Jagd nach kleinen Säugetieren, wie Mäusen oder Vögel, um sie später zu grillen und zu essen – uns war klar, dass daraus nichts wird, da wir ja etwas zum Essen hatten, aber Kinder haben nun mal andere Gedanken.

Wir mussten auf die Boote warten, um auf die andere Seite des Meeres, nach Griechenland, zu fahren. Als schließlich die Boote kamen, die wir aufpumpen sollten, war es bereits dunkel, und der klare Sternenhimmel zeigte sich über uns. Ich hatte noch nie zuvor einen solch atemberaubenden Himmel gesehen. Es war, als würde man durch ein Teleskop in den Weltraum blicken, denn der grünblaue Himmel war so klar und strahlend, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Sogar Sternschnuppen waren zu sehen, und ich konnte nur staunen.

Die beiden Boote waren aufgepumpt und im Wasser platziert. Doch nun begann die heikle Diskussion darüber, wer wo Platz finden konnte. Die Richtlinie lautete, dass Frauen und Kinder zuerst in die Mitte des Bootes steigen sollten, während die Männer sie umgaben. Ein Problem war jedoch, dass die Taschen, die jeder von uns mit sich führte, zu schwer waren. Ursprünglich für maximal neun Personen konzipiert, war der begrenzte Raum der Boote in keiner Weise ausreichend, um bis zu fünfzig Menschen aufzunehmen. Jeder Gegenstand mehr, den man mit sich trug, könnte uns zum Tod führen.

Ich war einer der letzten, die ins Boot stiegen. Der Raum war begrenzt und ich fand nur schwerlich einen Platz. Nachdem ich gesehen hatte, dass alle Mitglieder meiner Familie an Bord waren, setzte ich mich hin und klammerte mich an meinen Rucksack. Mein Blick wanderte hinaus aufs Meer, das in der Dunkelheit mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Trotz meiner späten Einreihung in das Boot fand ich mich seltsamerweise ganz vorne wieder. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Kante des Bootes, schloss die Augen und schlief ein…

Als ich wieder aufwachte, lag die Spitze des Bootes höher im Wasser. Wasser war eingedrungen und sammelte sich schwerpunktmäßig in der Mitte des Bootes. Die Angst vorm Sinken mitten auf dem Meer war groß und im ganzen Boot zu spüren. Um mich herum hörte ich Gebete. Menschen, deren einzige Hoffnung auf Gott ruhte. Ich betete auch. Ich spürte auch eine seltsame Leere in mir, ich schloss meine Augen und fiel erneut in den Schlaf. Vielleicht dachte ich in diesem Moment nicht über Leben und Tod nach, denn ich war mir bewusst, dass wir alle eines Tages sterben würden.

Erst später, als ich anderen von meinem Schlaf im Boot erzählte, wurde mir klar, wie außergewöhnlich das war. “In einer solchen Situation, unter solchem Stress, könnte niemand einfach schlafen”, hörte ich. Erst nach Jahren erfasste mich das volle Ausmaß dieses Prinzips. Ich versuchte, es in mein Leben zu integrieren. Nicht, dass ich überall dort schlief, wo ich auf Gefahren stieß, sondern dass ich gelassener durchs Leben ging. Das Leben ist eine Reise mit Höhen und Tiefen, Licht und Schatten. Manchmal geraten wir in Schwierigkeiten, die fast erdrückend sind. Doch wie es im Quran in Sure 94, Vers 4-5 heißt: “Mit der Erschwernis kommt die Erleichterung.”

Wir sollten stets das Gute sehen und für das dankbar sein, was wir haben. Anstatt uns in Negativität zu verlieren, sollten wir nach Lösungen suchen, wie wir Probleme bewältigen können. Und manchmal kann ein einfaches Nickerchen tatsächlich die Lösung unserer Probleme sein.

Das gesunkene Boot

Nach etwa 7 Stunden erreichten wir endlich eine Insel. Nur fünf Meter vor der Küste sank unser voll mit Wasser gelaufenes Boot. Gott sei Dank war das Wasser an dieser Stelle nicht zu tief, und wir erreichten alle die Insel lebendig. Es war Mitternacht und wir waren klatschnass. Also entfachten wir ein Feuer, um uns aufzuwärmen und zu trocknen. Mit dem Sonnenaufgang setzten wir unsere Reise fort. Wir gingen und gingen, bis wir eine Straße erreichten. Nach ungefähr 12 Stunden Fußmarsch durch den Wald, an Bauernhöfen vorbei und entlang von Straßen erreichten wir schließlich eine Polizeiwache.

Meine Geschichte in Griechenland ist lang, und es ist schade, sie zu verkürzen. Doch am Ende des Tages bin ich dankbar, dass meine Familie und ich gesund sind und derartig intensive Erfahrungen durchleben konnten. Diese Reise hat uns viel gelehrt und reifer gemacht. Wir haben die Welt erkundet und wertvolles Wissen erworben. Auch schwierige Zeiten erlebt, aber unabhängig von der Schwere der Herausforderungen haben wir niemals aufgegeben und nie auf ein Nickerchen verzichtet.

Dritter Grundsatz: Sei kein Waschlappen

Wir verbrachten Wochen auf dieser wunderschönen Insel in Griechenland, eine der intensivsten Zeiten meines Lebens. Wir warteten geduldig, während wir uns darauf vorbereiteten, unsere Reise zur Hauptstadt Athen fortzusetzen. In einem stattlichen Schiff, das Tausende von Passagieren in Richtung Athen beförderte, erreichten wir die Stadt nach etwa sechs Stunden.

In Athen angekommen, suchten wir nach Essen und einem Schlafplatz. Endlich erhielten wir eine Adresse für eine Unterkunft, die uns vorübergehend Zuflucht bot. In diesem Haus verharrten wir zwei Tage, bevor wir schließlich mit dem Bus weiter zur Grenze von Mazedonien fuhren.

An der Grenze angelangt, fanden wir uns unter sengender Sonne wieder, umgeben von Tausenden von Menschen, die auf eine Möglichkeit zur Weiterreise warteten. Die Szenerie war karg: Sand, Stacheldrahtzäune und ein Bahngleis.

Die Grenze war überfüllt mit Menschen aller Art, die unter extremen Bedingungen ausharrten. Es war beängstigend, so viele Menschen in dieser verzweifelten Situation zu sehen. Jeder Einzelne hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt und das Risiko eingegangen, alles zu verlieren – nur um nun hinter dieser geschlossenen Grenze zu stehen? Nein, in ihren Augen konnte ich ablesen, dass sie nicht aufzuhalten waren.

Und so standen wir da, vor uns bewaffnete Polizisten, die langsam die Kontrolle zu verlieren schienen. Ihre Geduld schwand, und der Gedanke, uns mit Gewalt abzuwehren, lag in der Luft – ähnlich wie in der Woche zuvor, als sie mit Tränengasbomben und Granaten auf die Menge schossen, um sie zu vertreiben.

Der Druck der Menschen auf die Polizisten wuchs, und der Wunsch, sich nicht länger aufhalten zu lassen, war spürbar. Immer wieder wurden kleine Gruppen durchgelassen, doch die Masse war so groß, dass sie, wenn die Polizisten eine Lücke öffneten, unaufhaltsam einströmte und die Grenze überqueren wollte. Ein Teufelskreis entstand.

Stunden vergingen, während ich und meine Familie in der Schlange warteten. Endlich waren wir an der Reihe, durchzugehen, doch der Druck der Menge veranlasste die Polizisten, niemanden mehr passieren zu lassen. In den vordersten Reihen versuchten Menschen, die Polizisten zu überreden, uns passieren zu lassen. Sie versicherten, dass wir Ruhe bewahren und nur in kleinen Gruppen durchgehen würden.

Schließlich einigten sich einige Menschen darauf, eine feste Kette zu bilden, um den Druck der Menge aufzuhalten und die Passage für die vordersten Personen zu sichern.

Es schien, als wäre alles unter Kontrolle, dann brach das Chaos aus. Die Menschen drängten vorwärts, unaufhaltsam. In diesem Moment wurde ich von hinten geschubst und stieß mit meinem Kopf gegen das Schutzschild eines Polizisten. Die Welt verschwamm kurz vor meinen Augen, während ich versuchte, mich durchzukämpfen. Dann sah ich wie ein großer Mann mit einem Schlagstock auf mich zu kam und mich in den Magen schlug. Neben mir schlug er eine Frau gegen die Schulter, die ein Baby bei sich trug.

Die Polizisten schlugen wild um sich, während die Menschen versuchten, die Grenze zu überwinden. Von da an erinnere ich mich an nichts mehr. Die ganze Szene ist mir erst im Laufe der Zeit wieder in Erinnerung gekommen. Ich lief nur etwa hundert Meter weiter und fand unter einem Baum Schatten, wo ich mich setzte. In diesem Moment dachte ich an meine Familie, schließlich war keiner von ihnen zu sehen. Die Ruhe und Friedlichkeit auf der anderen Seite der Grenze waren unerklärlich. Ich war nur einen Schritt vom Chaos entfernt, doch jetzt herrschte Stille.

Ich begann über unsere Reise nachzudenken und darüber, was wir hier taten und warum wir überhaupt hier waren. In diesem Moment könnten wir wie ganz normale Menschen zur Schule oder zur Arbeit gehen, nach Hause kommen und mit der Familie etwas essen, dann ins Bett gehen und schlafen, bis sich das am nächsten Tag wiederholt. Doch wir entschieden uns, wie man heute so sagt, der Matrix zu entkommen.

Mit dem hart verdienten Geld, hätten wir uns ein Auto, ein Haus oder einen kleinen Laden kaufen können. Stattdessen zahlten wir es an illegale Schleuser, die uns halfen, gegen jegliche Gesetze, in ein anderes Land zu gelangen.  Wir entschieden uns, unsere warmen Betten zu verlassen und stattdessen in Parks, Straßen und Wäldern zu schlafen. Wir entschieden uns, auf warmes Essen zu verzichten und stattdessen zu hungern.

Anstatt jetzt mit anderen Kinder Fußball zu spielen, werden wir an den Grenzen von Polizisten verprügelt. Aber warum eigentlich? War es allein für ein besseres Leben in einem fremden Land? Für bessere Chancen auf Nahrung, Bildung und Fortpflanzung? Oder ging es darum, uns und unseren Nachkommen ein sicheres Leben zugewähren?

Heute, nach all den Jahren, kann ich diese Fragen nur mit einem “Jain” beantworten. Denn während vieles davon wahr ist, enthält es nicht die ganze Wahrheit. Um die ganze Wahrheit zu enthüllen, greife ich auf das Wissen von Neurowissenschaftler Dr. Andrew Huberman, die  uns folgendes mitteilt:

„Im Laufe der Geschichte war das Leben der Menschen unbestreitbar hart. Um zu überleben, mussten sie den Elementen trotzen, sich mit Raubtieren auseinandersetzen und in eine Welt voller Unsicherheiten zurechtfinden. Doch in der heutigen Zeit ist es eine andere Art von Herausforderung die subtiler und komplexer ist. Unser Leben ist in vielerlei Hinsichten einfacher geworden. Wir haben uns die Technologie zunutze gemacht, um unsere grundlegenden Überlebensbedürfnisse mit bemerkenswerter Effizienz zu erfüllen. Vorausgesetzt das ein stabiler finanzieller Rahmen gegeben ist, kann man all seine Grundbedürfnisse erfüllen, ohne das Haus zu verlassen. Das ist ein nie da gewesener Sprung in menschlichen Fortschritt. Der Punkt ist, jeder von uns hat so viel Freiraum, in welchem wir nichts tun müssen, wir sind also dazu gezwungen uns Dinge auszudenken, um diesen Freiraum zu füllen.“ 

Idealerweise sucht man sich Hobbys oder verfolgt bestimmte Berufe wie Forschung oder Entdeckung, um diesen Freiraum sinnvoll zu nutzen. Ein Problem besteht jedoch darin, dass Menschen eher dazu neigen, faul herumzuliegen und am besten nichts zu tun (sie ähneln einem “Waschlappen”: daher kommt der Begriff), oder wie wir es heute sehen, verbringen viele die meiste Zeit auf sozialen Medienplattformen wie Instagram und YouTube, um sich damit zu vergnügen.

Laut Dr. Andrew Huberman hat die Neurowissenschaft eine bahnbrechende Erkenntnis gewonnen: „Freude und Schmerz teilen sich die gleichen Nervenbahnen. Und das Gehirn strebt ständig danach, ein Gleichgewicht zwischen diesen Kräften herzustellen. Wenn also Vergnügen und Lust die Waage in eine Richtung kippen, muss Schmerz sie in die andere Richtung kippen lassen. Dieses Gesetz des Gleichgewichts steht im Einklang mit dem physikalischen Gesetz des Universums, dass jede Aktion eine Reaktion hat. Diese Regel beschränkt sich nicht nur auf die Physik, sondern gilt ebenso für unsere Psyche und Gefühle. Zum Beispiel: Wenn man sich YouTube-Videos ansieht, kippt die Waage in Richtung Lust und Vergnügen. Hört man damit auf, kippt die Waage zwangsläufig in Richtung Schmerz.“

Der entscheidende Faktor ist, dass wiederholte Hingabe an vergnügungssüchtige Aktivitäten letztendlich zu einem chronischen Dopaminmangel führen kann. Im Laufe der Zeit wird das Belohnungssystem des Gehirns weniger empfindlich. Das kann zu zwanghaftem Streben nach hoch belohnenden Erfahrungen führen. Dieser chronische Drang versetzt das Gehirn in einen Zustand, in dem einfach kein Dopamin mehr vorhanden ist, vergleichbar mit klinischer Angst und Depression. Die einst erfreulichen Aktivitäten fühlen sich nun leer und uninspirierend an. Gute Zeiten schwächen die Menschen, und in einer Welt, in der nur noch Bequemlichkeit herrscht, gerät das Gleichgewicht aus den Fugen.

Die schmerzhafte Dummheit

Im Schatten dachte ich darüber nach, was ich nun tun sollte – sollte ich alleine weitergehen oder auf meine Familie warten? Die Unsicherheit nagte an mir, denn ich wusste nicht, wie es ihnen ergangen war und ob sie überhaupt ankommen würden. Eine Weile saß ich da mit schmerzendem Kopf und Bauch.. Ein Mann reichte mir eine Flasche Wasser und erklärte auf Englisch, dass vorn am Zug andere Menschen Nahrung und medizinische Versorgung bekamen. Es wäre klüger, dorthin zu gehen.

Mit der Hoffnungslosigkeit im Kopf und dem Schmerz im Bauch blieb ich sitzen und wartete weiter. Es vergingen noch einige weitere Momente, bis plötzlich eine Menge Menschen auftauchte, die aus dem Bereich des Chaos kamen. Ich suchte nur nach meinen Familienmitgliedern und erblickte schließlich meine Mutter und meine Schwester. Eine Mischung aus Freude und Besorgnis durchflutete mich, denn mein Vater und meine kleine Schwester fehlten noch. Doch auch sie tauchten einige Minuten später auf, und ich empfand tiefe Dankbarkeit, sie gesund zu sehen.

Verwunderlich war, dass diesmal nicht nur eine kleine Gruppe durchgelassen wurde, sondern alle, die dort waren. Es war wie ein Wunder, aber es gab eine simple Erklärung. Um 17:30 Uhr sollte ein Zug von der mazedonischen Grenze abfahren, und die Polizisten hatten beschlossen, um 17:00 Uhr alle passieren zu lassen, um den Zug rechtzeitig erreichen zu können.

Das gesamte Chaos, die Stürme und die Streitereien schienen also umsonst gewesen zu sein. Wir hätten einfach an Ort und Stelle sitzen und auf die Grenzöffnung warten können. Natürlich wussten viele bereits im Voraus, dass die Grenze um 17:00 Uhr öffnen würde, dennoch drängten sie bei jeder Gelegenheit vor. Ich kann dieses Verhalten nicht erklären, aber ich verstehe es, da ich gesehen habe, wie es den Menschen dort schlecht erging. Dennoch hätten viele Prügeleien (die manchen sogar das Leben kosten könnten) vermieden werden können, wenn man einfach zugehört und Geduld geübt hätte.

Trotz allem bin ich Gott dankbar für unsere Gesundheit und für das herausfordernde Abenteuer, das wir erlebt haben. Mir ist dennoch bewusst, dass, obwohl wir seit Jahren unser Ziel, Deutschland, erreicht haben und hier ein glückliches Leben führen, die Reise noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Herausforderungen und Abenteuer rufen nach uns, und wir sollten sie mit einem Lächeln willkommen heißen. Keine Waschlappen sein, nicht rumheulen und bei Gelegenheit auf ein Nickerchen nicht verzichten.

Meine Erkenntnisse

Selbst in den dunkelsten Momenten unseres Lebens, wenn wir vor scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen stehen, leuchtet das Portal zur Stärke für jeden von uns auf. Meine Geschichte erzählt von einer Reise, die uns von den schmerzhaften Tiefen der Verzweiflung bis zu den majestätischen Höhen der Hoffnung führt. Die Welt kann ein Ort der Unsicherheit sein, doch in uns ruht die Macht, aus jedem Sturm gestärkt hervorzugehen.

Die Erinnerungen an diese Reise mögen schmerzhaft sein, doch sie sind ein Zeugnis unseres unbeugsamen Willens, unserer Entschlossenheit und unseres Kampfes. Wir haben die Dunkelheit durchquert, um das Licht am Ende des Tunnels zu erreichen. Unsere Geschichte ist eine Ode an die menschliche Ausdauer und die Fähigkeit, selbst in den schlimmsten Zeiten eine innere Stärke zu finden.

Die Grundsätze, die ich unterwegs gelernt habe, sind wie Kompassnadeln, die uns auf dem Weg zur Selbstverwirklichung und zum Wachstum führen. Diese Prinzipien sind für mich zeitlose Weisheiten, die mich lehren, die Welt mit anderen Augen zu sehen, meine Emotionen zu meistern und die Kraft der Dankbarkeit zu schätzen.

Meine Geschichte der Flucht mag nun ein Ende gefunden haben, aber die Reise setzt sich fort. Ich weiß, dass, obwohl wir seit Jahren unser Ziel, Deutschland, erreicht haben und hier ein glückliches Leben führen, die Reise noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Herausforderungen und Abenteuer rufen nach uns, und wir sollten sie mit einem Lächeln willkommen heißen. Keine Waschlappen sein, nicht rumheulen und bei Gelegenheit auf ein Nickerchen nicht verzichten.

Mostafa Jamalzada wurde in der Stadt Teheran im Iran geboren. Seine Familie hat afghanische Wurzeln. Seit 2015 lebt er gemeinsam mit seiner Familie in Deutschland. Hier schaffte er erfolgreich das Fachabitur und hat ein starkes Interesse an Psychologie, Religion, Persönlichkeitsentwicklung und verschiedene Kampfsportarten.

Im Rahmen des Projektes Flucht – Exil – Partizipation: Citizen Science zu historischen und aktuellen Fluchterfahrungen als partizipative Bildungsarbeit  hat Mostafa den Essay „Das Portal zur Stärke. Eine Reise durch Entschlossenheit, Stille und Dankbarkeit“ geschrieben.

Er schildert in seinem Essay die Flucht seiner Familie nach Europa aus der Perspektive eines 10-jährigen Jungens. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse fasst er in drei Grundsätzen zusammen.

Der Essay „Das Portal zur Stärke. Eine Reise durch Entschlossenheit, Stille und Dankbarkeit“ wurde erstmalig im Rahmen des Projektes Flucht – Exil – Partizipation: Citizen Science zu historischen und aktuellen Fluchterfahrungen als partizipative Bildungsarbeit auf der Webseite vom We Refugees Archiv veröffentlicht (02.11.2023).