Herman Kruk über Hoffnungslosigkeit in Vilnius, Juni 1941

Herman Kruk schreibt am 24. Juni 1941, kurz nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, über Mutlosigkeit angesichts seiner vergeblichen Ausreisebemühungen aus Vilnius in die USA.

װערטער פֿון האַרץ

מײַן פּײַן האָט קײן װערטער נישט. דער הײַנטיקער טאָג האָט פֿון מיר געמאַכט אַ זקן. נײן, נישט קײן זקן, איך װיל זײַן יונג, שטאַרק און דוערהאַפֿט.

איבערהאַלטן, איך װיל און װעל עס איבערהאַלטן!

אלץ איז טאַקע פֿאַרשפּילט. אָט אַזוי טראַכט איך װען איך נעם זיך פֿאַר מײַן אויסגעקויפֿטן בילעט פֿון „אינטוריסט“ אויף דער שטרעקע קאָװנע–װלאַדיװאָסטאָק. אויס רײַזע קײן אַמעריקע. װעגן דעם האָבן זיך שוין פֿאַר מיר באַמיט די באָלשעװיקעס. זײ האָבן געהאַט פֿאַר מיר נאָר אײן עצה: אָדער פֿאָרן אין פּוילישן לעגיאָן אין קאַנאַדע און פֿון דאָרט זײ אינפֿאָרמירן… אָדער שלעפּן זיך איבער 6 חדשים ביז… ביז איך בין צװישן די װאָס האָבן נישט אויסגעמיטן געשטעלט צו װערן פֿאַרן פּרוּװ פֿון די דײַטשע הונען.

אויב עס װעט נישט געשען קײן נס איז טאַקע אַלץ פֿאַרשפּילט. דאָס װאָס עס געשעט אַרום אונדז זאָגט דערפֿאַר, אַז קודם־כּל זענען מיר געפֿאַנגענע אין דער האַנט פֿון דײַטשלאַנד. עס קומט אויף מיר אַ נײַע, אפֿשר די שװערסטע ערע אין מײַן לעבן.

איך גיב זיך איבער דעם גורל אין די הענט און נעם אויף זיך די געלע לאַטע, װי קריסטוס די דערנער.

הערמאַן קרוק, װילנע, דעם 24טן יוני 1941

Worte von Herzen

Es gibt keine Worte für mein Leiden. Dieser Tag hat mich zu einem alten Mann gemacht. Nein, kein alter Mann. Ich möchte jung, stark und ausdauernd sein. Um es zu überstehen – ich will und werde es überstehen!

Alles ist wirklich verloren. So denke ich, wenn ich die Fahrkarte habe, die ich bei Intourist [der offiziellen sowjetischen internationalen Reiseagentur] für den Zug nach Kowno-Wladiwostok bezahlt habe. Nie mehr nach Amerika fahren. Dafür haben die Bolschewiken gesorgt. Sie haben mir nur einen Ratschlag gegeben: entweder zur Polnischen Legion nach Kanada zu gehen und von dort aus für sie zu informieren … oder sie zögerten es sechs Monate hinaus, bis … bis ich zu denjenigen gehöre, die sich den Prozessen der deutschen Hunnen unterwerfen.

Wenn nicht irgendein Wunder geschieht, ist wirklich alles verloren. Was um uns herum geschieht, sagt deutlich, dass wir in erster Linie Geiseln Deutschlands sind. Es ist der Beginn einer neuen Ära, vielleicht die härteste meines Lebens.

Ich gebe mich in die Hände des Schicksals und trage den gelben Flicken, so wie Christus die Dornenkrone trug.

Herman Kruk, Vilnius, 24. Juni 1941

Am 23. Juni 1941 besetzt die deutsche Wehrmacht Vilnius. Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, befindet sich seit seiner Flucht aus Polen 1939 in der Stadt. In seinem Tagebuch schreibt er wenige Tage nach der deutschen Besatzung von seinen vergeblichen Bemühungen, in die USA zu fliehen. Diese scheiterten daran, dass sowjetische Behörden von ihm im Gegenzug für die Ausreiseerlaubnis verlangten, Spionage in Kanada zu betreiben. Sollte er das Angebot nicht annehmen, würden sie die Erlaubnis weitere sechs Monate aufschieben. In der Entscheidung, in Vilnius zu bleiben, sieht Kruk bereits sein eigenes Todesurteil voraus, trifft sie aber dennoch.

Kruk nutzt das Bild des gelben Flickens hier nur symbolisch, um seine Fügung in das historisch jüdische Schicksal auszudrücken. Der Befehl, sich mit dem gelben Stern als Jude zu kennzeichnen, wurde erst später von den Nationalsozialisten erlassen. 11vgl. Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, p. 49.

Kruk lebte fast vier Jahre in Vilnius und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilna dokumentierte Kruk als Chronist. Im Jahr 1943 wurde Kruk in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.

    Fußnoten

  • 1vgl. Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, p. 49.

Jiddisches Original (PDF): Kruk, Herman, 1961: Togbuch fun Vilner geto, New York: YIVO Institute for Jewish Research, pp. 5f.

Für die englische Übersetzung, siehe: Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, p. 49.