Gertraute Götze – ihre Lebensgeschichte

Gertraute Goetze bewirbt sich aus ihrem Exil in New York im Juli 1937 bei der American Guild für ein Autorinnenstipendium und schildert in ihrer Bewerbung ihre Lebensgeschichte. Der Text ist im Original und wurde inhaltlich und formal nicht verändert.

Winter im Central Park, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

Als ich vor drei und einem halben Jahr mit der „Britannic“ in New York ankam, hatte ich keine Hoffnungen mehr. Ich war vierzig Jahre alt und hatte meine einzige Hoffnung, meinen siebenjaehrigen Sohn Franz im Berliner Grunewald begraben. Er war in der Zeit des grossen Aerztemangels – entstanden aus der Diskriminierung und Verfolgung der deutschen Juden – mit vielen Tausenden anderer Kinder an Diphterie gestorben. Zu meiner grossen Betroffenheit erfuhr ich, dass in New York kaum jemals ein Kind an dieser Krankheit stirbt, weil man sich hier die Entdeckungen deutscher Aerzte (Schick Test) 11Der Schick-Test ist ein Hauttest mit dem festgestellt werden kann, ob ein Mensch anfällig für Diphterie ist.
Benannt ist der Test nach dem jüdisch-ungarischen Kinderarzt Béla Schick (1877-1967), welcher von 1903 bis 1923 in Wien als Professor lehrte. Nach seiner Emigration in die USA 1923 arbeitete er weiter als Arzt und Professor und war ab 1927 koordinierender Leiter einer fünfjährigen Anti-Diphterie-Kampagne in den USA, die die Krankheit – unter Zuhilfenahme des Schick-Tests – so gut wie ausrottete.
zu Nutzen macht, was man in Deutschland nicht tut. […]

Ich blicke auf mein frueheres Leben zurueck wie auf eine vorgeburtliche Existenz.  In jenem Leben war ich als Tochter eines Nervenarztes geboren, der sich von allen Menschen in vielen Dingen unterschied. Was auf mich einen besonderen Einfluss hatte, war seine Gegnerschaft gegen jede Frauenbildung, die es mit sich brachte, dass ich kaum in die Schule ging. Da aber in meinem Vaterhaus alle Moeglichkeiten zu lernen gegeben waren, wurde ich trotzdem ein Buecherwurm. […]

Waehrend des Krieges war mein Vater ein wutender Feind des preussischen Militarismus. Er musste zusehen, dass von seinen vier Soehnen jedes Jahr wieder eine in die Armee hineinwuchs, und obwohl keiner fiel. Fuehrten doch die Aufregungen und Entbehrungen dieser Zeit seinen Tod gleich nach dem Kriege herbei. In derselben Zeit erbarmte sich meiner Unselbststaendigkeit eine frauenrechtlerische Freundin meiner Eltern. Sie liess mir kurzerhand Stenographie und Schreibmaschineschreiben beibringen und damit kam ich durch den Krieg, die Revolution, die Inflation, die sogenannte Scheinkonjunktur, die Depression und den beginnenden Nazismus. In allen diesen Phasen interessierte ich mich am meisten fuer die praktische Gestaltung weiblicher Unabhaengigkeit und in den paar guenstigen Jahren zwischen der Inflation und der Depression war es mir moeglich, ein Kind aufzuziehen. Manuskripte sammelten sich in dieser Zeit auch bei mir an, meine Energien waren aber teils so sehr auf innere Aufgaben gerichtet, teils so sehr durch das Erwerbsleben in Anspruch genommen, dass ich keine Anstrengungen machte, einen Verleger zu finden. Es handelt sich um zwei Theaterstücke, einige kleine Novellen und einen Band Gedichte

Nachdem Hitler die Geschicke Deutschlands in die Hand genommen hatte, war die Lage fuer mich noch unguenstiger, trotzdem er an meiner Rasse keinen Anstoss nehmen konnte. Ich verliess Deutschland freiwillig. […]

    Fußnoten

  • 1Der Schick-Test ist ein Hauttest mit dem festgestellt werden kann, ob ein Mensch anfällig für Diphterie ist.
    Benannt ist der Test nach dem jüdisch-ungarischen Kinderarzt Béla Schick (1877-1967), welcher von 1903 bis 1923 in Wien als Professor lehrte. Nach seiner Emigration in die USA 1923 arbeitete er weiter als Arzt und Professor und war ab 1927 koordinierender Leiter einer fünfjährigen Anti-Diphterie-Kampagne in den USA, die die Krankheit – unter Zuhilfenahme des Schick-Tests – so gut wie ausrottete.

Gertraute Götze (nannte sich in den USA Germaine Eduard) emigrierte 1935 in die USA. Am 16.07.1937 beantragt sie im Alter von 42 Jahren bei der American Guild ein Autorinnenstipendium. In Deutschland arbeitete sie bis zu ihrer Auswanderung als Berliner Angestellte. In New York verdiente sie ihr Geld mit „Schreibarbeiten“. In New York möchte sie über Themen schreiben, die im Deutschen Reich nicht öffentlich verhandelt werden können.

Die Guild bewilligt ihr ein Stipendium, allerdings ist nicht bekannt, ob Romane von ihr veröffentlicht wurden. In der deutschen Nationalbibliothek findet sich kein Eintrag.

Original in: Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main.