Hannah Arendt organisiert einen Kindertransport aus der Tschechoslowakei

Die Women’s International Zionist Organization (Internationale Zionistische Frauenorganisation, WIZO), die größte internationale karitativ-tätige Frauenorganisation der Welt, gründete in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und unter der Leitung der deutsch-jüdischen Aktivistin Recha Freier (1892-1984) am 30. Mai 1933 die Organisation „Kinder- und Jugendalijah“, die die Auswanderung tausender jüdischer Jugendlicher nach Palästina arrangierte, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Hannah Arendt (1906-1975) arbeitete für die Organisation in ihrem Pariser Exil und ist Mitunterzeichnerin des Memorandums von 1939, das Informationen über den Plan enthält, etwa fünfzig jüdische Kinder aus der deutsch besetzten Tschechoslowakei nach Frankreich zu bringen, um sie auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.

MEMORANDUM

1) La WIZO-ALIAH désirerait faire entrer en France une cinquantaine d’enfants Juifs de Tchéco-Slovaquie, d’environ 13 ans.

2) Chaque dossier comprends:

a) une autorisation paternelle légalisée devant notaire

b) un questionnaire

c) un certificat médical avec radioscopie, signé par le médicin accrédité suprès du Consulat Français à Prague.

d) une photo.

3) L’entretien de ces enfants est assuré

a) par une somme de 160.000 francs mise à notre disposition par l’Union Libérale de Paris (Président M. Andre Baur).

b) par une somme de Mille Livres, garantie par notre organisation de Londres, „Youth Aliyah“, 2 Southampton Place.

c) Chaque enfant est garanti et sera placé dans une famille française qui se charge pendant un an des frais d’entretien et de scolarité etc. … sous le contrôle du Comité Central des Réfugies et sous la surveillance de la Wizo-Aliah.

4) Le choix des enfants a été fait par la „Pomocny Vybor pro Zidovskou Mlades“ (Aliah de la Jeunesse), de Prague. Tous ces enfants sont destinés des leur inscription, à devenir des ouvriers agricoles spécialises. Les fonds recueillis par la WIZO-ALIAH (Voir paragraphs 3, a et b) serviront à assurer à ces enfants un apprentissage de deux ans dans les écoles professionelles françaises.

5) Avant d’entrer dans ces écoles, chaque enfant fréquentera l’école communale et devra se présenter aux épreuves du Certificat d’Études.

6) Ces enfants se trouvent directement menacés du fait de l’occupation si rapide de la Tchéco-Slovaquie.

p. la Wizo                                                        p. l’Aliah

La Secrétaire Générale                                   La Déléguée,

J.R. Stern                                                        Hannah Stern 11Hannah Arendt

    Fußnoten

  • 1Hannah Arendt

MEMORANDUM

1) WIZO-ALIAH möchte etwa fünfzig jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei, etwa 13 Jahre alt, nach Frankreich bringen.

2) Jede Datei enthält:

a) eine vor einem Notar legalisierte väterliche Genehmigung

b) einen Fragebogen

c) ein ärztliches Attest mit Radioskopie, unterzeichnet von dem vom französischen Konsulat in Prag akkreditierten Arzt.

d) ein Foto.

3) Der Unterhalt dieser Kinder ist gesichert.

a) durch einen Betrag von 160.000 Franken, der uns von der Union Libérale de Paris (Präsident Herr Andre Baur) zur Verfügung gestellt wurde.

b) durch eine Summe von eintausend Pfund, die von unserer Organisation in London, „Youth Aliyah“, 2 Southampton Place, garantiert wird.

c) Jedes Kind wird bei einer französischen Familie untergebracht, die unter der Aufsicht des Zentralen Flüchtlingskomitees und unter der Aufsicht von Wizo-Aliah ein Jahr lang für den Unterhalt, die Schulkosten usw. aufkommt.

4) Die Auswahl der Kinder wurde von der „Pomocny Vybor pro Zidovskou Mlades“ (Aliah der Jugend), Prag, getroffen. All diese Kinder sind vom Zeitpunkt ihrer Einschulung an dazu bestimmt, spezialisierte Landwirtschaftsarbeiter zu werden. Die von WIZO-ALIAH aufgebrachten Mittel (siehe Absatz 3, a und b) werden dazu verwendet, diesen Kindern eine zweijährige Ausbildung in französischen Berufsschulen zu ermöglichen.

5) Vor dem Eintritt in diese Schulen besucht jedes Kind die Gemeindeschule und muss die Prüfungen für das Studienzertifikat ablegen.

6) Diese Kinder sind durch die rasche Besetzung der Tschechoslowakei direkt bedroht.

p. Wizo p. Aliah

Der Generalsekretär Der Delegierte,

J.R. Stern Hannah Stern 11Hannah Arendt

    Fußnoten

  • 1Hannah Arendt

Direkt nach dem Zionistischen Kongress in Den Haag 1907 schloss sich in Deutschland eine Gruppe deutsche zionistischer Frauen zum “Jüdischen Frauenverein für kulturelle Arbeit in Palästina” zusammen, um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse jüdischer Frauen in Palästina zu verbessern. Die Women’s International Zionist Organisation (Internationale Zionistische Frauenorganisation, WIZO) wiederum wurde 1920 von Lady Rebecca Sieff in London gegründet. Ihr gliederte sich der deutsche „Kulturverein“ an, setzte seine Arbeit jedoch eigenständig fort. 1923 wurde in Dresden eine weitere auf Unabhängigkeit bedachte zionistische Frauenorganisation gegründet, der “Bund Zionistischer Frauen”. 1929 fusionierte beide Organisationen und schlossen sich WIZO an.

Die seit 1926 in Berlin lebende Recha Freier, frühere Präsidentin von WIZO Bulgarien und Mitglied der WIZO-Exekutive, erkannte gleich zu Beginn der Nazizeit die drohende Gefahr für die jüdische Bevölkerung in Deutschland und entwickelte trotz immenser Schwierigkeiten und großer Widerstände das „Kinder- und Jugend-Alijah“ Programm, um möglichst viele Kinder aus Deutschland nach Palästina heraus zu bringen, sie dort fachlich auszubilden und ihnen bei Adoptiveltern in Kibbuzim ein neues Zuhause zu schaffen. Schon 1932 verließ die erste Gruppe von Kindern Deutschland, noch bevor die Organisation offiziell am 30. Januar 1933, am Tag von Hitlers Machtergreifung, offiziell gegründet wurde. Sitz der Organisation war in Berlin-Charlottenburg. In Jerusalem übernahm Henrietta Szold (1860–1945) die Leitung des dortigen Büros und nahm die ankommenden Kinder und Jugendlichen in Empfang. Ein weiteres Büro entstand in London. Zweigstellen gab es u.a. in Paris, für die Hannah Stern, spätere Arendt, tätig war. 1939, noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, konzentrierte man die Arbeit von Paris aus auf die deutsch-besetzte Tschechoslowakei. Tausende jüdische Mädchen und Jungen konnten durch das „Kinder- und Jugend-Alijah“ Programm vor den Nazis gerettet werden.

Mémorial de la Shoah Archives, Fond MD 16, Aliah de la Jeunesse + WIZO Section française

Mit besonderem Dank an Édouard Sill, der We Refugees Archiv mit seiner Recherchearbeit in Paris unterstützte.