Hannah Arendt über den Unterschied zwischen Immigrant*innen und Geflüchteten

In einem Radiointerview aus dem Jahr 1958 spricht Arendt über die politische und rechtliche Situation der Geflüchteten der 1930er Jahre und der Unterschiede zwischen Immigration und Flucht.

Kontaktbogen mit Aufnahmen von Hannah Arendt, Fred Stein, New York 1960, mit freundlicher Genehmigung von Peter Stein © Fred Stein Archiv

„Diese Immigration war ja nicht einfach eine Immigration. Sie ist es eigentlich im Verlaufe der Zeit erst geworden. Wir, Sie könnten sich ja zum Beispiel vorstellen, dass in den 20er-Jahren vor 1933 wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Deutschland, was ja auch vielfach vorgekommen ist, eine Reihe von jüngeren deutschen Gelehrten auswanderte nach Amerika, um neue Möglichkeiten zu finden. Dieses würde ich sagen, sind wirkliche Immigranten, und dies ist ein Phänomen, das wir immer haben. Hiervon unterscheidet sich aber die Immigration 1933 ja ganz erheblich. […]

Der Unterschied ist sehr einfach. Ein Flüchtling geht von einem Tag zum anderen oder von einer Woche zur anderen oder von einem Monat, bestenfalls zum anderen, weil er muss. Er kann sich das nicht vorbereiten. Er kann sich sehr oft in den meisten Fällen das Land, in das er einwandern will, nicht aussuchen. Also, er ist, sagen wir bei der normalen Immigration geht ein Mann in das und das Land, weil er da und dahin will. Hier geht man im Wesentlichen aus einem Lande heraus und dann ganz gleich, in welches hinein.  […]

Aber sehen Sie, ein Flüchtling […] unterscheidet sich von einem Immigranten vor allen Dingen auch dadurch, dass seine Papiere nicht in Ordnung sind – das heißt, ein Immigrant geht heraus mit einem deutschen Pass, bis er die Staatsangehörigkeit der anderen erworben hat. […] Er ist vollkommen in Ordnung. Er hat das deutsche Konsulat, das ihn weiter beschützt, bis er die andere Staatsangehörigkeit erworben hat. Diesen Schutz hatten die Flüchtlinge nicht. Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Staatenlosen und anderen Auswanderern, das heißt, der normale Immigrant ist ein Auslandsdeutscher, bis er die andere Staatsbürgerschaft erwirbt. Wir wurden unmittelbar staatenlos. Das heißt, wir waren durch kein Konsulat, durch keine internationalen Verträge und durch nichts geschützt.“

Hannah Arendt war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.

Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im Jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u. a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.

Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.

In diesem Ausschnitt aus einem Radiointerview, das Lutz Besch im Jahr 1958 mit Arendt führte, spricht sie über die rechtlichen und faktischen Unterschiede zwischen Migrant*innen und vor dem nationalsozialistischen Regime Geflüchteten der 1930er Jahre. Dabei greift sie auch wesentliche Gedanken zum Problem der Staatenlosigkeit auf, die sie u. a. in ihrer Totalitarismusstudie entwickelte.

Betz, Lusch: Ein Gespräch mit Hannah Arendt; in: Radio Bremen, 14.5.1958, gesendet am 08.01.1959.

Mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen, Produktion 1959.