İsa Artar über unterschwellige Vorurteile

İsa Artar geriet in der Türkei wegen seiner politischen und journalistischen Aktivitäten unter staatlichen Druck und ins Visier der Polizei. Bevor er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. In diesem Interviewausschnitt beschreibt er, wie ihm in Berlin auch in liberalen Kreisen unterschwellige Vorurteile begegnen und mit welchen Vorurteilen aus der türkischen Community er konfrontiert ist.

İsa Artar, privates Bild

Die Deutschen, die ich kenne, sind eher gebildete Menschen usw. Ich habe natürlich schon manche komische Leute gesehen, aber richtige rassistische Vorwürfe habe ich noch nicht erlebt.

Aber in manchen Sachen kommen so Vorurteile mit. Zum Beispiel habe ich schon oft die Frage gestellt bekommen: „Ja, wenn alles dann vorbei ist, willst du dann wieder in die Türkei gehen und da leben?“ Also, ich kann diese Frage am Anfang schon verstehen. Aber wenn ich seit vier Jahren hier wohne, verstehe ich nicht, warum diese Frage kommt. Das ist doch auch so eine Sache: Wenn man in irgendeinem Land so lange lebt und sich ein Leben aufbaut, ist es sehr schwer zurückzugehen. Das ist ja noch nicht mal eine Wahl, das muss man irgendwie, man hat sich ein Leben gebaut, Kinder bekommen, das Kind geht in die Schule usw. Das ist so schwer, dann wieder zurückzukehren. Deswegen habe ich mich gefragt, warum diese Frage so oft kommt. […] Ich antworte dann immer sehr deutlich: „Nein, auf gar keinen Fall, ich will hier bleiben.“

Ich glaube, ich habe auch nicht so richtig konservative Leute kennengelernt. […] Dann wäre es vielleicht anders. Aber ich hatte zum Beispiel in meinem Praktikum einen Typen: Also da hatte jemand Sekt dabei und hat ausgeschenkt, und da hat der gesagt: „Das ist halal, halal.“ 11Nach islamischem Recht erlaubt. Und da habe ich gesagt: „Es ist mir scheißegal, ob es halal ist. Ich bin nicht gläubig.“ Also, ich kann meinetwegen gerne was trinken. Manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass ich, obwohl ich nicht so gerne Alkohol trinke, ich zeigen wollte, dass ich Alkohol trinken kann.

Aber dann hatte ich auch manchmal das Gefühl, dass einige Deutsche denken, dass wir bestimmte Dinge nur hier machen: Wir daten Frauen nur hier, wir trinken Alkohol nur hier, wir tanzen und feiern nur hier. Und in der Türkei sind wir dagegen und akzeptieren das nicht. Manche sind der Meinung und das ist störend. […]

An meinen Gedanken über Freiheit und Leben hat sich nichts geändert. Die waren in der Türkei genauso wie hier. Nur dass sie sich hier leichter leben lassen. […] Ich lehne diese Vorwürfe ab, dass wir hier so gut und frei leben und das in der Türkei anders machen würden. Ich will auch nicht, dass alle herkommen müssen, um ein gutes Leben zu haben. Ich will, dass die Türkei auch für mehr Leute ein Lebensmittelpunkt sein kann. Und Syrien auch. […]

Für mich war die Geflüchtetenidentität nicht so problematisch. Problematisch war eher diese Identität ‚verheirateter Mann‘: Ich war 24 und verheiratet, was ich für mein Leben eigentlich nicht wünschte. […] Wir haben das gemacht, weil es bürokratisch einfacher war. […]

Und jetzt sage ich überall: Ich bin Student. Also, ich muss nicht allen erzählen, dass ich Asyl erhalte. Ich habe auch keine Angst davor, das zu erzählen. Ich verstecke das nicht, aber es gibt da manche Vorurteile auch aus der türkischen Community, zum Beispiel bei den Leuten in Dönerladen: Die denken, dass das nur reiche Leute sind, die da kommen, um zu studieren, die eine reiche Familie haben. […] Ich hätte das niemals machen können. Aber ich habe jetzt durch das Stipendium die Möglichkeit.

    Fußnoten

  • 1Nach islamischem Recht erlaubt.

Nachdem er bereits in der Schule und Universität politisch aktiv gewesen war, engagierte sich İsa Artar 2013 in der Gezi-Protestbewegung. 11Im Jahr 2013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben. Danach wurde er neben seinem Studium der Kunstgeschichte Chefredakteur des unabhängigen und kritischen Nachrichtenportals „Siyasi Haber“. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Entlassungen im Militär und im öffentlichen Dienst. Die staatliche Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, insbesondere Journalist*innen hat seitdem stark zugenommen. Auch İsa Artar geriet ins Visier der Behörden. Bevor jedoch Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. Mittlerweile hat er Asyl erhalten, studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und schreibt u.a. für den Tagesspiegel.

In diesem Interviewausschnitt beschreibt er, wie ihm in Berlin auch in liberalen Kreisen unterschwellige Vorurteile begegnen und mit welchen Vorurteilen aus der türkischen Community er konfrontiert ist.

    Fußnoten

  • 1Im Jahr 2013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben.

Dies ist ein Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte.