İsa Artars Strafprozess im Exil und die (Un)möglichkeit der Rückkehr

İsa Artar geriet in der Türkei wegen seiner politischen und journalistischen Aktivitäten unter staatlichen Druck und ins Visier der Polizei. Bevor er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. In diesem Interviewausschnitt erzählt er, warum er aus der Sicherheit seines Asyls in Deutschland zur Beendigung des Strafprozesses in der Türkei beitragen wollte. Außerdem spricht er darüber, wie schwierig es ist, nicht in sein Herkunftsland reisen zu können, um der Familie beizustehen.

Isa Artar, privates Foto.

2017 ist mein Vater in der Türkei gestorben, und ich konnte nicht hinfliegen. Ich war der einzige Sohn, also das einzige Kind. Und mein Vater wusste nicht, dass ich hier im Asyl bin. Ich habe gesagt, ich habe ein Stipendium bekommen, ich mache einen Deutschkurs und so weiter. Wenn meine Mutter gestorben wäre, und mein Vater hätte mich bei ihm gewünscht, hätte ich ihm das deswegen nicht erklären können. Aber meine Mutter wusste schon, dass ich nicht kommen kann. Niemand hat darum gebeten, dass ich da hingehe. Mein Vater ist eher so ein empfindlicher Mensch. Ich konnte ihm das nicht erklären, das konnte er nicht ertragen. Aber meine Mutter kann das schon.

2019, letztes Jahr: Ich wollte immer, dass dieser Prozess weiterläuft. 11Wegen seiner journalistischen Tätigkeiten war gegen İsa Artar in der Türkei Anklage erhoben worden. Ihm gelang jedoch kurz vorher, im Dezember 2016, die Ausreise nach Deutschland. Ich wollte es nicht so: „Ich bin hierher geflüchtet. Ist mir egal, was in der Türkei passiert. Warum sollte ich eine Aussage machen?“ […] Ich wollte Wege suchen, und habe sie dann gefunden. Als damals der Haftbefehl gegen mich erlassen wurde, habe ich meine Anschrift hier in Deutschland angegeben. Daraufhin hat das Gericht die Ermittlung hierhergeschickt, also sie haben es übersetzt und dann hier zum deutschen Gericht geschickt und erbeten, dass İsa hier eine Aussage macht.

Eigentlich wollte das deutsche Gericht das nicht machen. Sie haben das erst mal abgelehnt, weil sie immer denken, sie machen das so gut für die Flüchtlinge. Aber in meinem Fall wollte ich dann sehen, wie es läuft, denn vielleicht werde ich dann unschuldig, also freigesprochen. Deswegen wollte ich das probieren. Sowieso habe ich kein Risiko: Also wenn das Gericht entscheidet, dass ich eine Strafe bekomme, gehe ich nicht hin, ich habe ja Asylstatus. Ich habe das dann mit meinem Anwalt gemacht. Der hat dem Staatsanwalt geschrieben, dass İsa das machen will. Dann haben sie mich gerufen und wir haben eine Aussage beim deutschen Gericht gemacht. Ich habe das alles auf Türkisch geschrieben und abgegeben. […] Dann haben sie das an die Türkei geschickt, und dort hat der Staatsanwalt entschieden, dass der Inhaber unschuldig ist, aber für mich [den Redakteur] wollte er Strafe, und zwar richtig vier Jahre oder so. Und das Gericht hat sich dann entschieden, dass ich anderthalb Jahre bekomme wegen Propaganda über die Medien, […] aber nur anderthalb, weil ich mich vor dem Gericht gut verhalten habe. Und dann wurde das Gerichtsurteil aufgeschoben: Das heißt, ich muss nicht in den Knast gehen, wenn ich in den nächsten fünf Jahren nicht nochmal eine Straftat begehe. […]

Also theoretisch kann ich jetzt in die Türkei fliegen, aber andererseits kann es immer noch gefährlich sein und ich würde meinen Status hier verlieren. Aber natürlich würde ich gerne meine Mutter besuchen, sie ist eine alte Frau. Aber ich warte darauf, dass ich irgendwann eingebürgert bin, und dann kann ich vielleicht mal gehen. […]

Ich verstehe schon, dass zum Beispiel die Iraner*innen und Afghan*innen richtig Schwierigkeiten haben. Die haben nicht vor, irgendwann hinzureisen, weil sie das niemals machen können. Aber die Türken, also die, die früher gekommen sind, in den 80ern und so, die hatten immer vor, irgendwann hinzureisen und dann da zu wohnen. Ich habe das nicht vor. Ich habe immer gedacht, dass ich dort niemals wieder leben kann, aber wenn es sicher ist, will ich hinreisen. […] Aber es ist nicht sicher und es kann sich immer ändern: Ich konnte nur so eine kurze Strafe bekommen, weil ihre Gefängnisse so voll sind, dass sie das Gesetz geändert haben. Wenn ich da gewesen wäre, wäre dieser Prozess schnell gelaufen, und dann hätte ich wirklich eine hohe Strafe bekommen. Aber ich habe immer Angst, dass meiner Mutter was passiert und ich nicht da sein kann.

    Fußnoten

  • 1Wegen seiner journalistischen Tätigkeiten war gegen İsa Artar in der Türkei Anklage erhoben worden. Ihm gelang jedoch kurz vorher, im Dezember 2016, die Ausreise nach Deutschland.

Nachdem er bereits in der Schule und Universität politisch aktiv gewesen war, engagierte sich İsa Artar 2013 in der Gezi-Protestbewegung. 112013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben. Danach wurde er neben seinem Studium der Kunstgeschichte Chefredakteur des unabhängigen und kritischen Nachrichtenportals „Siyasi Haber“. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Entlassungen im Militär und im öffentlichen Dienst. Die staatliche Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, insbesondere Journalist*innen hat seitdem stark zugenommen. Auch İsa Artar geriet ins Visier der Behörden. Bevor jedoch Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. Mittlerweile hat er Asyl erhalten, studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und schreibt u.a. für den Tagesspiegel.

In diesem Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte, spricht er über die (Un)-Möglichkeit, seine Familie in der Türkei zu besuchen und mit Verwandten über sein Schicksal zu sprechen. Als sein Vater 2017 starb, konnte İsa nicht zu seiner Beerdigung fahren.

Zudem erzählt İsa, wie er in Deutschland eine Aussage zu seinem Prozess machte, weil er Klarheit und, sich aus der Sicherheit des Asyls heraus, die Chance auf einen Freispruch ermöglichen wollte. Das Gericht verurteilte ihn schließlich zu einer anderthalbjährigen Haftstrafe auf Bewährung. Durch eine Rückreise bestünde jedoch die Gefahr, die Anerkennung als Asylberechtigter in Deutschland zu verlieren. 22Siehe 72 Abs. 1 Nr. 1a AsylG.

Viele Geflüchtete teilen İsas Gefühle der Unsicherheit und Zerrissenheit, wenn es um eine Reise in das Land geht, das sie aus Furcht verlassen haben: Auch wenn für sie klar ist, dass eine langfristige Rückkehr und ein Leben in Sicherheit nicht möglich wäre, ist die Aussicht, Familienmitglieder nicht sehen oder ihnen in Krankheits- und Todesfällen beistehen zu können, sehr schwer. Zu dem Dilemma trägt bei, dass – auch gesetzlich (siehe oben) – eine zeitweilige Rückkehr als Beweis dafür gedeutet wird, dass die Verfolgungslage nicht schwerwiegend genug ist, um Asyl zu er- und behalten.

    Fußnoten

  • 12013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben.
  • 2Siehe 72 Abs. 1 Nr. 1a AsylG.

Dies ist ein Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte.