Herman Kruk über Warschau

Herman Kruk schreibt über seinen Schmerz angesichts der katastrophalen Kriegssituation in seiner Wahlheimatstadt Warschau.

דאָנערשטיק דעם 28טן אויגוסט [1941]

װ אַ ר ש ע. זאָל איך מיך נישט שעמען אויסצוזאָגן: שװער מיר װעגן דעם צו דערמאָנען, אָבער װיפֿל מאָל האָב איך שוין געװײנט צוליב דער מאַמעשטאָט זינט איך האָב איר פֿאַרלאָזן אין מײַן גלות־װעג? הײַנט האָבן מיר זיך װידער געגאָסן טרערן פֿון די אויגן װען איך האָב אויסגעהערט אַ גענויעם און באַריכותדיקן גרוס פֿון װאַרשע.

עטלעכע צװאַנציק יאָר געזעלשאַפֿטעלעכע טעטיקײט אין װאַרשע. יעדער שטײן איז מיר נאָענט. אַלץ האָט אין מיר געפֿיבערט װען מען האָט דערצײלט װעגן דעם.

װאָס קומט דאָרט פֿאָר? […]

אין װאַרשע שטאַרבן טעגלעך 500 מענטשן. די אָרעמקײט און דער הונגער איז אַזוי גרויס, אַז עס זענען פֿאַראַן זײער אַ סך פֿאַלן, װוּ עס איז נישטאָ פֿאַר װאָס מקבר צו זײַן מתים. דאַן דער אויסװעג – מען װאַרפֿט אַרויס די מתים אין גאַס. פּשוט און אָן צערעמאָניעס. […]

אין װאַרשע דערשײַנט אומלעגאַל אַ ייִדישע צײַטונג פֿון „בונד“, אַ צײַטונג פֿון „צוקונפֿט“ און אַ צײַטונג פֿונ דער „צוקונפֿט“ אין פּויליש. עס דערשײַנען אויך 3 אומלעגאַלע פּוילישע טאָגצײַטונגען. […]

איך פֿאַרשרײַב די דאָזיקע ידיעות נאָר דערפֿאַר, כּדי מיט דער צײַט, אויב איך װעל דאָס דערלעבן, קענען עס קאָנטאָלירן װי אַזוי ידיעות זענען צו אונדז דערגאַנגען. עס איז כאַראַקטעריסטיש פֿאַר דער געשאַפֿענער לאַגע און פֿאַר דעם טרויעריקן מצבֿ אין װעלכן מיר געפֿינען זיך.

אָפּגעריסן פֿון דער װעלט און אָפּגעשײדט פֿונעם נאָענטסטן אַרום.

Donnerstag, 28. August [1941]

„Warschau. Sollte ich mich nicht schämen, es auszusprechen: Es ist schwer für mich, es zu erwähnen, aber wie viele Male habe ich um meine Heimatstadt geweint, seit ich sie verlassen habe auf meinem Weg ins Exil?  Heute haben meine Augen wieder Tränen vergossen, als ich eine genaue und umfangreiche Botschaft aus Warschau hörte.

Gute 20 Jahre gesellschaftlicher Tätigkeit in Warschau. Ich kenne dort jeden Stein. Alles in mir war fieberhaft, als sie mir davon erzählten.

Was geschieht dort? […]

In Warschau sterben täglich 500 Menschen. Die Armut und der Hunger sind so groß, dass es oft nichts gibt, womit man die Toten begraben könnte. Der Ausweg: Man wirft die Toten auf die Straße. Einfach und ohne Zeremonie. […]

In Warschau wird eine jiddische Zeitung des Bund illegal publiziert, auch eine Zeitung der Tsukunft 11Die Jugendorganisation des Bund in Polen. und eine Tsukunft-Zeitung auf Polnisch. Auch drei polnische Zeitungen erscheinen illegal. […]

Ich halte diese Nachrichten nur fest, weil in der Zukunft, wenn ich sie erleben werde, werde ich prüfen könne, wie diese Nachrichten uns erreichten. Es ist charakteristisch für die Situation und für den traurigen Zustand, in dem wir uns befinden.

Isoliert von der Welt und abgeschnitten vom Milieu, das uns lieb war.“

    Fußnoten

  • 1Die Jugendorganisation des Bund in Polen.

Am 23. Juni 1941 besetzt die deutsche Wehrmacht Vilnius. Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, befindet sich seit seiner Flucht aus Polen 1939 in der Stadt. Am 28. August 1941, als die Stadt bereits vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt ist, schreibt er in seinem Tagebuch von dem Schmerz, den er in Gedanken an seine Wahlheimatstadt Warschau und die dortige Zerstörung fühlt, die große Teile seines damaligen Lebens ausgelöscht hat. Der Tagebucheintrag unterstreicht die präsente Abwesenheit, die migrantisches Leben vermehrt heimsucht.

Kruk lebte fast vier Jahre in Vilnius und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilna dokumentierte Kruk als Chronist. Im Jahr 1943 wurde Kruk in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.

Jiddisch (PDF): Kruk, Herman, 1961: Togbuch fun Vilner geto, New York: YIVO Institute for Jewish Research, pp. 37f.

For Englisch translation, see: Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, p. 77.

Übersetzung ins Deutsche © Minor Kontor.